Manche Maedchen muessen sterben
Vaters und versuche, mich durch meine Tränen darauf zu konzentrieren.
»Ich liebe dich, Daddy«, flüstere ich.
Nicoles Handy auf dem Nachttisch läutet. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, wer dran ist. Ihr Radiowecker verkündet, dass es 8:49Uhr ist. Wenn an einem Sonntagmorgen vor neun das Telefon klingelt, braucht man kein Genie zu sein, um zu wissen, dass irgendetwas nicht stimmt.
»Geh nicht ran«, murmle ich. »Geh nicht ran, geh nicht ran, geh nicht ran.«
Nicoles Augenlider öffnen sich flatternd. »Marshall«, murmelt sie. Das ist mein Dad.
»Hmmm? Wer ruft an?« Er macht die Augen nicht auf. Er gähnt. »Wie spät ist es?«
Ich schluchze jetzt. Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass sie diese Nachricht hören müssen. »Ich bin hier, Dad«, flüstere ich. Ich lege meine Hand auf seinen Arm, in dem Wissen, dass er es nicht spüren kann. Doch obwohl da diese seltsame Distanz zwischen uns ist, die mich daran hindert, ihn vollends zu berühren, kann ich ihn beinahe fühlen, und das genügt, um mir einen gewissen Trost zu verschaffen. Ich kann seine Körperwärme unter meiner Berührung spüren. Ich kann das Blut spüren, das durch seine Adern fließt. Oh Dad. Dass dir einmal das Herz gebrochen wurde, wäre wahrlich genug gewesen. Er hat bereits meine Mutter verloren, und jetzt das.
Nicole streckt ihre Arme aus und greift gemächlich nach dem Telefon. Sie mustert blinzelnd die Anruferkennung. »Es ist Liz.« Sie wirft meinem Dad einen Blick zu. »Warum ruft sie so früh an?«
Er gähnt von neuem. »Keine Ahnung. Geh ran. Hör dir an, was sie will.«
Es ist Liz? Wie ist das möglich? Ich bin doch hier – und da unten, im Wasser. Dann dämmert es mir: Wer immer gerade anruft, benutzt mein Handy.
Ich fühle mich wie vor den Kopf geschlagen. Entsetzt. Es ist nicht fair, dass so was passiert, nicht fair, dass meine Eltern diesen letzten kurzen Moment des Friedens einbüßen, bevor alles im Chaos versinkt.
Nicole geht ans Telefon; ihre Stimme klingt müde, aber heiter. »Liz, Liebes, was gibt’s?«
Einen langen Moment hört sie einfach nur zu. Die Stimme am anderen Ende ist männlich. Ich erkenne sofort, dass es die von Richie ist.
»Warte – Richie, ganz langsam. Du machst mir Angst. Okay. In Ordnung, machen wir. Wir sind gleich da.«
Sie klappt das Telefon zu und starrt meinen Vater an. Ihr Gesicht ist bleich wie der Tod; und mittlerweile verstehe ich was davon.
»Das war Richie«, erklärt sie meinem Dad. »Die Polizei ist unterwegs zum Boot. Er sagt, dass es einen Unfall gegeben hat und dass wir sofort runterkommen müssen.«
Mein Vater setzt sich auf. »Was für einen Unfall?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das wollte er nicht sagen.«
Sie sehen einander an.
»Warum hat Richie angerufen? Und noch dazu mit Liz’ Handy? Warum nicht Liz oder Josie?«, fragt mein Dad.
Zuerst sagt Nicole nichts. Dann presst sie eine Hand vor den Mund. »Zieh dich an, Marshall.«
Ich kann nicht länger zusehen. Ich steige aus dem Bett und gehe durch den Raum zu Alex, der schweigend dasteht und wartet. Er scheint nicht überrascht zu sein, als ich ihm die Hand auf die Schulter lege und erneut die Augen schließe.
Eine Sekunde später sind wir auf dem Boot, drinnen, und draußen herrscht lautes Wehklagen, fünf Stimmen, die wild durcheinanderplappern, voller Kummer und Entsetzen.
Es gibt keinen Ort, an den ich fliehen könnte, um diesem Schmerz zu entgehen. Alles, was ich tun kann, ist warten.
4
Die Polizei hat Taucher angefordert. Als sie eintreffen, stelle ich fest, dass es sich um zwei Männer und zwei Frauen handelt, die alle in kompletter Tauchermontur sind. Sie klettern die Leiter am Heck des Bootes runter und arbeiten zusammen, um meinen Leichnam aus der Spalte zwischen Fiberglas und Holz zu befreien. Unterdessen schieben die Polizisten – von denen eine Menge vor Ort sind – das Boot vom Pier weg, um ihnen mehr Platz zu verschaffen. Die Wellen, die durch die ganze Bewegung entstehen, lassen meinen Körper auf die Seite und dann wieder auf den Rücken rollen. Dann, ganz behutsam, ganz langsam, halten die Taucher mich fest und dirigieren mich auf das felsige Ufer zu. Sobald ich aus dem Wasser bin, legen sie mich – vorsichtig, als hätten sie Angst, dass ich zerbreche – in einen glänzenden schwarzen Leichensack. In einen Leichensack. Mich. An meinem verfluchten Geburtstag.
Meine Eltern sehen alles mit an. Auch meine Freunde schauen zu, schweigsam und wie gelähmt. Keiner von ihnen weint,
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