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Manche Maedchen muessen sterben

Manche Maedchen muessen sterben

Titel: Manche Maedchen muessen sterben
Autoren: Jessica Warman
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mir ein ziemlich netter Kerl zu sein. Er nahm unsere Namen auf und sagte, wir sollten nach Hause fahren. Es war nach vier Uhr früh, lange nach der Sperrstunde für minderjährige Jugendliche in Noank. Aber es war die Nacht des Abschlussballs, also drückte er ein Auge zu.
    Doch anstatt nach Hause zu fahren, rollten wir bloß ein Stück weiter die Straße hoch, hielten in Richies Auffahrt und gingen runter zum Boot meiner Eltern. Den Rest der Nacht über lagen wir einander in den Armen und sprachen darüber, wie es wohl sein würde, Zwölftklässler zu sein – Seniors –, und darüber, welches College wir gemeinsam besuchen würden. Für uns beide stand völlig außer Frage, dass wir auch nach der Highschool zusammenbleiben würden. Richie Wilson war die Liebe meines Lebens.
    »Das ist also deine Stiefmutter«, sagt Alex und reißt mich damit aus meiner Erinnerung. Er ist immer noch an meiner Seite.
    »Ja«, sage ich. »Ihr Name ist Nicole. Sie ist Josies Mom.«
    Alex stößt einen leisen Pfiff aus. »Mann, ist die scharf .«
    »Würdest du gefälligst die Klappe halten?« Ich versetze ihm einen Stoß, so fest, dass er auf dem Pier beinahe den Halt verliert. Nicht dass es eine Rolle spielen würde. Denn schließlich: Was könnte ihm jetzt noch Schlimmes passieren?
    »Wie kannst du das alles so auf die leichte Schulter nehmen? «, will ich wissen. »Es geht hier um Menschenleben. Um das meiner Eltern, das meiner Freunde. Vermutlich ist ihr ganzes Leben jetzt ruiniert.«
    Alex wirft mir einen Blick zu. »Eingebildet bist du nicht, oder?«
    »Alex! Sie haben gerade meine Leiche im Wasser gefunden.«
    Er nickt. »Das stimmt. Aber letzten Endes werden sie darüber hinwegkommen.«
    Ich sehe meinen Vater an. Er hat den Blick gesenkt. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie ihm zumute sein muss. »Nein, werden sie nicht«, sage ich. »Nicht alle von ihnen. Nicht mein Dad.«
    »Der Tod ist ein Teil des Lebens«, murmelt Alex. »Irgendwann stirbt jeder.«
    »Aber nicht so.« Ich schaue zu meinem Leichnam hinüber, der am Ufer in dem Leichensack liegt, eingepackt und vor den Blicken verborgen. Warum lassen sie ihn einfach so da liegen? Kleinstadt-Bullen , denke ich bei mir, sind inkompetent. Was wissen die schon? Immerhin ist es ja nicht so, als hätte es in Noank jemals irgendwelche richtigen Verbrechen gegeben, die sie aufklären mussten.
    Ein Team von den Lokalnachrichten ist eingetroffen. Die Leute auf den anderen Booten sind wach und verfolgen mit vor den Mund geschlagenen Händen das Spektakel. Als ich meinen Blick über den Pier hinausschweifen lasse, kann ich meine Nachbarn sehen, die auf ihren Vorderveranden stehen oder aus ihren Fenstern spähen. Zuschauen. Fasziniert. Vermutlich ist das Ganze für sie wie ein Film, wie etwas, über das sie den ganzen Morgen beim Kaffee tratschen, eine grausige Geschichte, die sie ihren Freunden erzählen können, für den Fall, dass sie die große Show womöglich verpasst haben. Abgesehen vom neuesten Klatsch interessieren sich die Leute in Noank vor allem für Dinge . Klar, sie sind vielleicht bestürzt über die Tatsache, dass ich tot bin, aber ich wette hundert zu eins, dass sie sich trotzdem alle gerade fragen, wie sich mein Tod wohl auf den Wert ihrer Grundstücke auswirkt.
    Joe Wright sieht aus, als täte er sein Bestes, um zu verhindern, dass die Lage vollkommen außer Kontrolle gerät. Er hat meine Freunde und meine Eltern auf dem Vorderdeck des Bootes zusammengetrommelt, und dann gehen sie hinein.
    Ich sehe Alex an. Er nickt. »Gehen wir.«
     
    An Bord der Elizabeth herrscht ein Durcheinander, das irgendwie in der Zeit erstarrt zu sein scheint: Schlafsäcke, noch immer auf dem Boden ausgerollt; die Kaffeekanne mit verkrusteten Rändern, aber ohne Wasser; leere Bierdosen, auf dem Küchentresen verstreut. Über dem Kapitänssessel hängt eine gerahmte Fotografie, die nur wenige Monate vor dem Tod meiner Mutter aufgenommen wurde. Ironischerweise hat meine Stiefmutter Nicole das Bild gemacht. Sie und ihr Mann standen meinen Eltern seit jeher recht nahe, und Josie und ich waren schon immer die besten Freundinnen. Ich werde niemals diesen einen, ganz besonderen Tag auf dem Boot vergessen, an dem unsere ursprünglichen Familien zusammen und vermutlich zum letzten Mal wirklich glücklich waren. Zumindest waren wir so glücklich, wie man es in Anbetracht der Umstände nur sein konnte. Damals war meine Mom nämlich schon sehr krank. Auf dem Bild bin ich acht, fast neun, und ich
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