Manhattan Blues
Himmelreich
pustet«, und da verstand er ihn zum ersten Mal, als er sich vorstellte, wie der
Schwerfällige den Finger um den Abzug krümmte.
... Dein Wille geschehe
Wie im Himmel
Also auch auf Erden.
Unser täglich Brot gib uns heute...
Nun, gib uns heute, das genügt.
Dann fiel Walter ein großer brauner Umschlag auf den Schoß. Eine Welle
der Erleichterung durchzuckte ihn, doch dann spürte er einen betäubenden
Schmerz, als der Pistolengriff an seinem Hinterkopf landete. Er war so hart,
daß er sich zusammenkrümmte — er griff mit der Hand nach dem Rand der Bank, um
nicht kopfüber hinzustürzen. Tränen traten ihm in die Augen, sein Magen drohte
zu revoltieren -, aber nicht hart genug, ihn k. o. zu schlagen. Gerade genug,
ihn beschäftigt zu halten, während der Schwerfällige davonspazierte.
Und vielleicht ein kleines bißchen Rache für die Jagd im Riverside
Park? fragte sich Walter. Er öffnete den Umschlag.
Fotos von ihm und Anne in verschiedenen europäischen Städten. In
sonstiger Hinsicht harmlose Bilder von einem Einkaufsbummel in Paris, einem
Spaziergang an einer Amsterdamer Gracht, einem Nachmittag in Kunstgalerien in
Brüssel. Ein besonders schmerzlicher Schnappschuß von ihm auf der Treppe ihrer
Wohnung auf Skeppsholmen. Dann eine neue Reihe von Bildern: Anne und Marta im
Bett. Die gleiche grobkörnige Qualität eines billigen Pornofilms, aber die Bilder
sind doch deutlich genug, dachte Walter. Annes zierlicher Körper wirkte in der
Umschlingung durch Martas üppige Gliedmaßen noch kleiner. Ihre Finger auf dem
breiten Feld von Martas Rücken ausgebreitet. Die Augen aufgerissen, Lippen
geöffnet, und Martas Haar, das ihr auf die Schenkel fällt. Als sie an Martas
Brust saugt. Walter konnte Martas Schreie hören, konnte
hören, wie Anne...
Genug.
Walter wandte sich den Dokumenten zu. Trockenes Zeug, jedoch mehr als
genug, um Anne der Spionage zu überführen.
Und des Hochverrats. Jahrelange treue Dienste für die Partei,
komplett dokumentiert mit Daten und Orten. Mehr als genug, um sie in eine der
abgelegenen Hütten des Alten in den Bergen zu schicken, wo die Psychologen,
Pharmakologen und die einfachen, altmodischen Vernehmer der Firma sie bearbeiten
würden, bis sie sie ausgequetscht hatten.
Sie war eine typische junge Idealistin gewesen, wie Walter den
Dokumenten entnahm, eine geborene Mitläuferin. Vater Gewerkschafter, Mutter
Sozialistin. Die üblichen Mitgliedschaften in der üblichen langweiligen Liste
von Organisationen. Sozialistischer Jugendverband, Fair Play für Rußland ...
Verbale Unterstützung für unsere tapferen russischen Verbündeten bei ihrem
Kampf gegen den deutschen Faschismus (»Eine zweite Front jetzt!«). Alles
jämmerlich naiv, dachte Walter, aber ebenso jämmerlich typisch.
Nein, es wurde weder interessant noch gefährlich, bis Anne nach Europa
zu reisen begann. Auf Tournee — damit ein eingebauter Grund, von Stadt zu Stadt
zu ziehen, und Walter wußte, wie es passiert war. Damals für »die Sache«. Ob
sie hier eine Nachricht überbringen könne, dort ein Signal, diesen
Filmbehälter übergeben, dieses kleine Bündel Bargeld? An einen Genossen in
Wien, einen Genossen in Oslo, an einen Genossen in Nizza, Genossin? Alles
wohldokumentiert.
Und natürlich ist McCarthy wieder in den Staaten, um Leben und
Karrieren zu ruinieren, und man kann leicht verstehen, dachte Walter, wie sie
bei all dem weich wird und in die Knie geht. Damals war es schließlich nicht
ganz einfach zu wissen, wer wirklich der Feind war. Es war leicht, in
Verwirrung zu geraten, leicht, sein Land zu verraten, wenn man an die Arbeiter
der Welt glaubte, verstehen Sie, und an das Absterben des Staates sowieso, und
wenn das Komitee für unamerikanische Umtriebe die meisten Freunde auf die
schwarze Liste setzt.
Und dann schickte unser tapferer sowjetischer Verbündeter 1956 seine
Panzer nach Budapest, um auf den Straßen Studenten niederzumähen, und dann
tauchen die Flüchtlinge in Wien auf und erzählen Geschichten, wie man Gefangenen
Glasröhrchen in den Penis schiebt und dann zertrümmert. Wir hören, daß man
Frauen mit Bajonetten vergewaltigt hat, und alte Freunde verschwinden einfach.
Annes Verwirrung wird immer größer, ihre Begeisterung schwindet dahin, und ein
cleverer Führungsoffizier hätte gesagt, ja, natürlich, kein Problem. Das Volk
dankt Ihnen für Ihre Dienste, natürlich nehmen wir Ihnen nichts übel, ich gebe
am 4. Juli sogar eine kleine Party in Stockholm...
Als ich sie
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