Manhattan Blues
kennenlernte, las Walter in den Dokumenten, war ihre Karriere
als Kurier schon vorbei, um die Zeit also, als der
Große Skandinavische Lude und Tödliche Anwerber mit einer sowjetischen Spionin
ins Bett fällt. Die auch mit einer weiteren Sowjetspionin ein sapphisches Bett
teilt. Die wiederum in dem ungemein demokratischen Bett Joe Keneallys landet
und alles auf Tonband aufnimmt.
Was natürlich der Sinn des Ganzen ist. Nicht daß Keneally herumvögelt,
sondern mit - unter vielen anderen - einer sowjetischen Agentin. Die süßeste
und klebrigste Fliegenfalle von allen. Ein Senator der USA - vielleicht sogar
künftiger Präsident der Vereinigten Staaten — in einer langfristigen Affäre mit
einer Hure des KGB.
Doch Anne kann das alles natürlich nicht gewußt haben. Kann nichts von
Marta gewußt haben, und als ein Kurier gebraucht wurde, nun ja... wir können
bestenfalls von Gefängnis sprechen, und das ist schon die günstigste Annahme.
Und ich mit ihr. Denn sie werden nie glauben, daß du nichts davon
gewußt hast. Sie werden nie glauben, daß die Rendezvous deiner Geliebten in
Wahrheit keine Spionageaufträge waren. Und selbst wenn sie dir glauben
möchten, werden sie sich vergewissern müssen, und das könnte jahrelange
Vernehmungen erforderlich machen. Das heißt, wenn sie mit dir nicht einfach
irgendwohin fahren und dich erschießen, wie du es damals an jenem feuchten
Abend in Hamburg geglaubt hast.
Wenigstens werden sie einen Deal machen wollen, dachte Walter. Oder
sie wollen mich dazu bringen, das zu glauben, um mich zu Verhandlungen zu überreden,
während sie den Mord arrangieren.
Was, dachte Walter, uns zu dieser Frage der Melancholie bringt. Was
uns zu der Notiz führt: Bringen Sie die Tonbänder heute
abend um neun zum Boat Basin. Gefolgt von ein paar logistischen
Details. Nicht nötig, dann noch hinzuzufügen: »Sonst.« Sonst geht dieses
Päckchen an die CIA und das FBI, und dann werden Sie beide die nächsten paar
Jahre in diesen Hütten in den Bergen verbringen. Also tun Sie uns doch diesen
kleinen Gefallen, Walter, und bringen Sie die Tonbänder heute abend um neun zum
Boat Basin.
Was ich tun werde, dachte Walter. Was ich höchstwahrscheinlich tun
werde.
Nichts davon versetzte ihn in besondere Wut. Letztlich war es
geschäftlich, rein geschäftlich. Das sentimentale Postskriptum enthielt auch,
wie er sich eingestehen mußte, als Zugabe die schmierige, schmerzhafte Zeile: P.S. -
Nicht weil sie Sie weniger liebt, sondern weil sie das Volk mehr liebt.
Doch zunächst mußte er sich um einige Details kümmern. Es mußten die
Dinge vorbereitet und Pflichten erfüllt werden, bevor er am Boat Basin Verrat
begehen konnte.
Er kam unsicher auf die Beine, erlangte wieder das Gleichgewicht und
fand eine passende Mülltonne. Er breitete die belastenden Dokumente unter einer
Zeitung von gestern aus - die Titelseite zeigte ein Foto von
Schlittschuhläufern im Rockefeller Center und sein Bürogebäude im Hintergrund
—, zündete eine Zigarette an und hielt das Feuerzeug an die Zeitung. Als er
wegging, kam ein Penner an, rieb sich die behandschuhten Hände über der Tonne
und wärmte sich an dem Feuer und dem allmählich heller werdenden Tageslicht.
Walter schlenderte durch die Wall Street, in der es jetzt von Pendlern
wimmelte, die sich beeilten, die Räder von Kommerz und Handel in Gang zu
bringen, um zu kaufen und zu verkaufen. Eine angemessene Umgebung, dachte
Walter.
Er ging zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer der Contessa.
»Mein Lieber, sind Sie verrückt geworden?!« fragte sie, nachdem sie
beim siebten Läuten abgenommen hatte. »Es ist mitten in der Nacht!«
Gleichwohl erklärte sie sich bereit, Anne zu wecken, die verschlafen
ans Telefon kam.
Ohne jede Vorrede sagte Walter: »Ich weiß alles.«
»Was?«
»Ich weiß alles.«
Langes Schweigen. Ein Schweigen, das er schon bei so vielen Agenten
gehört hatte, denen er gerade die schlechte Neuigkeit überbracht hatte. Sonst
werden unsere Jungs mit den steinernen Gesichtern ein Wort bei euren Jungs mit
den steinernen Gesichtern fallen lassen...
»Wer bist du?« fragte sie.
Statt einer Antwort stellte er eine Gegenfrage: »Liebst du mich?«
Wieder Stille, bevor sie erwiderte: »Oui, je
t'aime.«
»Vertraust du mir?«
»Mein Gott, vertraust du mir?«
»Vertraust du mir?«
Wie vielen Agenten hatte er diese Frage schon gestellt? Auf wie vielen
Parkbänken, in wie vielen Cafes? Auf wie vielen langen und seelenvollen
Spaziergängen
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