Manhattan Blues
groß«, sagte
Mallon. »Haben Sie Kinder?«
»Nicht daß ich wüßte, Mr. Mallon.«
Sie lachten beide über den alten Witz, dann beugte sich Mallon vor und
vertraute Walter an: »Ich und die Mannschaft werden uns im Lauf des Tages
einen kleinen Eggnog genehmigen. Sie wissen, was ich meine. Kommen Sie runter,
wenn Sie Zeit haben, und trinken Sie einen Becher mit.« Er zwinkerte
verschwörerisch.
»Ja, das werde ich gern tun«, zwinkerte Walter zurück. »Haben Sie
vielen Dank.«
Von seinem Büro bei Forbes und Forbes konnte Walter den Weihnachtsbaum
nicht sehen. Nicht daß es ihn störte. Als Neuer hatte er Glück, überhaupt ein
eigenes Büro zu haben, mochte es auch ein schmales Handtuch sein mit einem Fenster,
das eine Aussicht nach Osten auf die Fifth Avenue bot statt nach Süden auf die
Rockefeller Plaza. Das Gebäude auf der anderen Straßenseite blockierte ihm fast
das gesamte Blickfeld, obwohl er die Turmspitze der St.-Patricks-Kathedrale und
zwei der Eingangstüren von Saks sehen konnte, wenn er das Fenster aufmachte und
den Hals reckte. Das bot ihm, wie er Forbes jr. gegenüber einmal bemerkte,
»eine Aussicht auf Gott und den Mammon zugleich«.
Doch wenn er an seinem Schreibtisch saß und sich mit seinem Stuhl
drehte, um aus dem Fenster zu starren, wurde sein Blickfeld von dem Bürogebäude
gleich gegenüber beherrscht — einem riesigen grauen Steinbau mit Säulen und
langen Reihen rechteckiger Fenster. Walter hatte eine Art Beziehung zu mehreren
der Büroangestellten im sechzehnten Stock des Nachbargebäudes entwickelt, denen
er manchmal zuwinkte, besonders zu einem gehetzt wirkenden leitenden
Angestellten in dem Fenster, das Walter als »16 C« bezeichnete, das dritte von links, wenn er
hinüberblickte. Der Mann in 16 C stand oft
am Fenster und hielt einen Pappbecher in der Hand, der vermutlich mit Kaffee
gefüllt war. Walter fühlte sich versucht, ihm einen richtigen Becher zu kaufen
und als Weihnachtsgeschenk hinüberzuschicken. Bis jetzt hatte er der Versuchung
jedoch widerstanden, weil er befürchtete, 16 C könnte die Geste mißverstehen. Außerdem zögerte er, die
Büro-Rituale eines Mannes zu stören, denn er wußte, daß die für die Arbeit
eines Menschen oft genauso wichtig sind wie ein Kugelschreiber, ein
Schreibtisch oder eine Rechenmaschine.
Walter goß seinen Kaffee - Sahne mit zwei Stück Zucker — in einen
richtigen Becher, trank ihn schnell aus und aß seinen Kopenhagener, während er
aus dem Fenster starrte. Dann machte er sich an die Arbeit.
Als erstes war der »Tägliche Spesenbericht« an der Reihe, eine
Angelegenheit von großer Bedeutung und nie enden wollendem Kummer für Mr.
Tracy, der den unvermeidlichen Spitznamen Dickless Tracy
trug, den Büro-Gnom, der sich vergeblich abmühte, die Ausgaben der
Versicherungsdetektive unter Kontrolle zu halten. Privatdetektive, selbst die,
die für Großfirmen wie Forbes und Forbes arbeiteten, gingen notorisch
nachlässig mit ihren Belegen um, und im Büro wurde gewitzelt, daß die
wöchentlichen Spesenberichte von Tracys Schreibtisch direkt zum Pulitzer-Preis-Komitee
für Belletristik wanderten.
»Quittungen«, hatte Tracy an Walters erstem Arbeitstag zu ihm gesagt.
»Ich wünsche Quittungen. Wenn Sie Ihr Geld erstattet haben wollen, müssen Sie
sich Quittungen geben lassen.«
Tracy liebte Walter. Walters Spesenberichte waren wahre Kunstwerke -
sauber, akkurat, und die Auslagen waren bis aufs I-Tüpfelchen belegt.
»Nicht wie bei diesem Scheißkerl Dietz«, wie Tracy Walter eines Tages
zuzischte. Walter hatte mit sehr ernstem Gesicht zugehört, obwohl er schon wußte,
daß Bill Dietz von der Abteilung für Ehesachen versucht hatte, Dickless
buchstäblich den Garaus zu machen, indem er
eine Quittung über 3428 Dollar für einen nagelneuen Lincoln Continental einreichte
und als »Fahrtkosten« deklarierte.
Vor allem gab Walter Tracy Quittungen. Dieser wußte jedoch nicht, daß
Walter auch allen anderen Quittungen gab. Walter besaß eine verblüffende
Sammlung Blanko-Quittungen von Taxiunternehmen, Restaurants, Autobahnzahlstellen,
Parkplätzen, Eisenbahnlinien und all den anderen Dienstleistungsunternehmen,
welche die Kollegen bei ihrer Arbeit in Anspruch nahmen. Jeder Detektiv, der
einen Beleg in einer Jackentasche vergessen oder sonstwie verlegt oder einfach
nur vergessen hatte, sich überhaupt einen geben zu lassen, durfte sich ohne
weiteres in der untersten rechten Schublade von Walters Schreibtisch bedienen.
Walter hatte nur
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