Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
von mir gesehen hat, und er hätte gefragt, ob wir uns nicht irgendwann mal treffen wollen.«
»Worüber hast du mit ihm gesprochen?«
»Läden, in die ich gehe, Abzockereien, von denen ich im Village gehört hatte – nichts Schlimmes.«
»Glaubst du, er will seine Schwester beschützen?«
»Vielleicht. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht der Boss ist.«
»Was hast du dem Mädchen gesagt?«
»Dass ich Kent heute Nachmittag um zwei in der Cafeteria der NYU treffe. Und bevor du wieder davon anfängst, dass ich nur beobachten und nichts machen soll – ich muss nicht hingehen. Ich kann ihn einfach versetzen und dich übernehmen lassen.«
»Was glaubst du, was für ein Typ dieser Kent ist?«
»Schwer zu sagen. Ich meine, dass er das Mädchen auf mich angesetzt hat, heißt, dass er zumindest ein bisschen was zu sagen hat. Aber wer weiß? Vielleicht ist er auch ihre Connection und tut ihr nur einen Gefallen. Das kann ich erst sagen, wenn wir miteinander geredet haben – falls wir reden.«
Twill saß da in seinem Schreibtischstuhl, so ruhig wie ein Rentner auf Urlaub in Bali. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und seine Miene war vollkommen sorgenfrei. Seine ganze Haltung sagte mir, dass es meine Entscheidung war, ganz allein meine. Von wegen.
»Bei Tag?«, fragte ich.
»An einem öffentlichen Ort.«
»Geh mit ihm nirgendwohin, ohne mich vorher zu fragen.«
»Wird gemacht, Pops.«
30
Mein Fieber war auch eine Art Treibstoff gewesen. Sollte ich geschwächt gewesen sein, hatte ich es nicht bemerkt oder es war mir zumindest egal gewesen. Sollte ich krank gewesen sein, hatte es meinen Geisteszustand und mein Wohlbefinden nicht beeinträchtigt. Aber da ich nun auf dem Wege der Besserung war, spürte ich die Erschöpfung bis in die Knochen. Als ich mich aus dem Besucherstuhl meines halbwüchsigen Sohnes erhob, fühlte ich mich doppelt so schwer – wie ein Boxer, der auf den vorletzten Gong eines zermürbenden Kampfes reagiert.
Die zwanzig Schritte von seinem Schreibtisch zu meiner Tür kamen mir vor wie der letzte Gang eines zum Tode Verurteilten – ich hatte keine Ahnung, ob ich es aus eigener Kraft schaffen würde. Ich packte den Türknauf, gleichermaßen, um mich zu stützen wie um mein inneres Heiligtum zu betreten, und drehte ihn, doch noch bevor ich die Tür öffnen konnte, klingelte mein Handy. Während ich auf meinen Schreibtisch zuwankte, nahm ich das Gespräch an.
»Hey, Luke. Wie geht es meiner Klientin?«
»Gut, als ich sie zum letzten Mal gesehen habe«, erklärte der Billardhai. »Ich glaube, sie mag Johnny. Er kann gut mit Ladys, die frisch aus dem Knast kommen, hält ihnen die Tür auf und so’n Scheiß. Die fressen ihm aus der Hand.«
»Sie könnte keinen besseren Bodyguard haben als Johnny Nightly.«
»Nein, Sir.«
»Und soll ich irgendwas unternehmen?«
»Nein.«
»Warum rufst du dann an?«
»Sweet Lemon.«
Kaum waren diese beiden schlichten Worte ausgesprochen, wuchs meine Erschöpfung weiter. Meine Gedanken begannen abzuschweifen, doch mein Mund blieb bei der Sache. Ich nahm eine Pille aus Helen Bancrofts kleiner Flasche und warf sie ein.
»Was wollte Lemon?«, fragte ich, dachte wahllos an die Straßen New Yorks und schluckte hart.
»Alles okay, LT ?«
»Ich bin nicht mal in der Nähe einer Gegend, wo man die Bedeutung dieses Wortes kennt.«
»Lemon sagt, falls es dich interessiert, könntest du ihn um Viertel nach zwölf in der White Horse Tavern im West Village treffen. Weißt du, was er meint?«
»Ja.«
»Ist Lemon ein Problem?«
Die Frage kam tief und gedehnt daher wie ein Fluss, der eine Meile breit ist und zwei Kulturen voneinander trennt. War Lemon ein Problem? Wahrscheinlich. Wahrscheinlich war er das. Aber ich hatte zeit meines Lebens mein Auskommen mit Problemen bestritten. Das Dasein auf dieser Erde war für mich eine Fahrt den Problem-Fluss hinunter, eine Verknüpfung widersprüchlicher Ideen, ein Kampf gegen Wind, Strömung, Sonne und Lebewesen – große wie kleine, aber allesamt tödlich.
» LT ?«, fragte Luke.
»Nein, Luke. Lemon ist okay, er macht bloß, was er macht, und versucht, es zu lassen.«
»Pass gut auf dich auf, LT .«
Ich legte auf, ohne zu antworten. Ich wusste, dass Luke es mir nicht übel nehmen würde.
Ich wollte sofort aufbrechen, doch stattdessen sackte ich in meinen Sessel und lehnte mich zurück. Mir fielen die Augen von selbst zu, und es folgte so etwas wie Schlaf …
Ich dachte an Stumpys grausam zugerichtete,
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