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Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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verkündete der glattrasierte junge Weiße mit dem rabenschwarzen Haar. »Sie kritisieren alles Mögliche von seiner linguistischen Komplexität bis zu den unverhohlen melodramatischen Zügen seiner bekanntesten Werke. Aber diese Lyrik-Päpste verstehennicht, dass Dylan ein Dichter des Volkes war, ein Mann, der Poesie, Rhythmus und die Sorgen aller Menschen miteinander verbunden hat, der ihr Leben geteilt und die Folgen ertragen hat. Sein Werk kämpft mit jeder seiner Wiederholungen um das Überleben einer Form, die die so genannten großen Dichter der Reichweite des einfachen Mannes entrückt haben …«
    Nicht nur die um den Tisch versammelten Touristen mit ihren Pints und Bitters lauschten dem Vortrag, in der ganzen Kneipe waren die Menschen fasziniert. Darüber lächelte der rotgesichtige Barkeeper. Der junge Mann fuhr fort, und auch ich merkte, wie mich seine Ideen und seine Leidenschaft in ihren Bann schlugen.
    Jemand tippte mir auf die Schulter, ich drehte mich um und erkannte Sweet Lemon Charles. Im Neonlicht des Busbahnhofs hatte seine Haut olivfarben ausgesehen, doch in dem natürlichen, wenn auch trüben Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel, war sie eher brieftaschenbraun.
    »Sie is ’ne Wucht, was?«, meinte er.
    Mit einer knappen Kopfbewegung wies er auf ein kleines weißes Mädchen mit kurzem braunem Haar, das hinter dem Vortragenden stand. Sie war dünn, doch unter ihrem braunen Kleid konnte man Kurven erkennen. Sie war nicht im landläufigen Sinne hübsch, doch sie hatte etwas an sich, das einen Mann dazu brachte, ein Dutzend attraktiverer Mädchen stehen zu lassen, nur um sie lächeln zu sehen.
    »Das ist Morgan?«, fragte ich.
    »Yep. Mein Mädchen.«
    »Sie könnte deine Tochter sein, Mann.«
    »Jedes junge Mädchen braucht einen Daddy, bis sie eigene Kinder hat.«
    »Das ist ziemlich gut, Lemon. Hast du das irgendwo gelesen?«
    »Auntie Goodwoman«, sagte er kopfschüttelnd.
    »Pssst!«, zischte eine Frau, die in der Nähe an der Bar saß. Sie gehörte nicht zu der zahlenden Gruppe, aber trotzdem …
    »Lass uns nach draußen gehen, LT «, schlug Lemon vor.
    Am frühen Nachmittag herrschte auf der Hudson Street ein reges Fußgängeraufkommen. Die Leute führten ihre Hunde spazieren oder schleppten in mattfarbenen rechteckigen Taschen Laptops herum. Menschen jeder Rasse, jedes Geschlechts, Untergeschlechts und Alters marschierten an uns vorbei.
    Lemon zündete sich eine Zigarette an, und ich stellte mich dicht neben ihn, um ein bisschen Qualm aus zweiter Hand abzubekommen.
    »Das ist also dein neuer Job?«, fragte ich. Es war eine naheliegende Frage und sicherer als all jene, die in meinem Hinterkopf lauerten.
    »Oh ja«, bestätigte der Mann, der zeit seines Lebens ein Dieb gewesen war. »Ich lebe, atme und vögele Lyrik, vierundzwanzig Stunden am Tag. Im Sommer hat Morgan mich zu irgend so einer Dichter-Residenz in Wyoming mitgenommen. Wir hatten eine Holzhütte in der Prärie. Eines Nachts hab ich keine zwei Meter vor unserer Tür einen Kojoten gesehen. Ich und ein Kojote!«
    »Hast du irgendein Ding am Laufen?«, fragte ich. Ich musste.
    »Hin und wieder geht es mir durch den Kopf«, antwortete er mit ungewohnter Offenheit. »Du weißt ja,wie vertrauensselig die Leute werden, wenn sie aufgeregt sind. Sie wollen, dass du ihnen hilfst, ihr Geld zu verlieren, so kommt es einem jedenfalls vor. Eines Abends haben eine Frau und ihr Mann mich gefragt, ob ich Stoff für sie kaufen könnte. Sie hätten zweihundert Dollar für das Zeug bezahlt, ich hätte es für fünfzig gekriegt. Aber stattdessen bin ich zurück in Morgans Wohnung und hab ein Prosagedicht darüber geschrieben, was meine Tante gesagt hätte, wenn ich tatsächlich gemacht hätte, was ich so verdammt leicht hätte tun können. Und das mach ich jetzt jedes Mal, wenn ich in Versuchung komme – egal wodurch. Es soll mein erstes Buch werden. Ich nenn es Sour Lemon, Sweet Nevermind .«
    Der Gauner fing an, mir auf die Nerven zu gehen, und das ist immer ein Problem. Die besten Betrüger glauben ihre eigenen Geschichten bis zu dem Moment, in dem sie dich enttäuschen. Sie sagen dir die Wahrheit, sie sagen dir die Wahrheit, sie sagen dir die Wahrheit, und dann sehen sie ganz plötzlich ein neues Licht und machen sich mit dem Geld aus dem Staub, bevor irgendwer begriffen hat, was passiert ist.
    »Weshalb hast du mich angerufen, Lemon?«, fragte ich.
    Die Frage riss ihn aus seinem Traum von Dichtkunst und Sex, bösen Gedanken und von Worten, nie

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