Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
mit dem Rücken zum Fenster stand. Lemon sagte mir, dass er verstand, wie verwundbar ich mich in dieser Position fühlen würde, und auf symbolische Weise auch, dass er dieses Leben hinter sich gelassen hatte. Also nahm er mit dem Rücken zur Straße Platz, während ich neben der Frau mit den hinreißenden Augen sitzen durfte.
»Morgan«, sagte Lemon. »Das ist der Typ, von dem ich dir erzählt habe – Leonid McGill.«
Die niedliche Sexbombe schürzte die Lippen und streckte die Hand aus.
»Stanford hat mir alles über Sie erzählt, Mr. McGill«, sagte sie mit einem anmaßend wissenden Blick.
»Stanford?«
»Das ist mein echter Name«, erklärte Lemon. »Und das ist die Frau, von der ich dir erzählt habe – Tourquois.«
Sie war schätzungsweise Mitte vierzig mit blassen Krähenfüßen an den Rändern ihrer kristallgrauen Augen. Sie lächelte, und ich nickte zur Begrüßung.
»Vielen Dank, dass ich einfach so in die Party platzen darf«, sagte ich.
»Kann ich dir was zu trinken holen?«, fragte Lemon. »Brandy, stimmt’s?«
»Cognac«, sagte ich.
»Richtig.«
Er ging an die Bar und mischte sich unter das Volk der jungen Village-Aspiranten, die um uns herum tranken und lachten. Morgan hatte noch immer die Lippen geschürzt, und Tourquois betrachtete ihre langen zarten Hände.
»Stanford hat erzählt, dass jeder Polizist in New York Ihr Gesicht und Ihren Namen kennt«, sagte Morgan.
»Hat er das?«
»Stimmt das?«
»Ich werde gelegentlich erkannt. Aber zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass mein Gesicht vertraut, aber nicht bekannt ist. Hin und wieder kann es vorkommen, dass mich jemand festnimmt, aber man hat mich noch jedes Mal wieder laufen lassen.«
Tourquois sah zu mir auf, und aus irgendeinem Grund stellte ich mir vor, wie ihr schwarzes Haar weiß wurde.
»Stanford sagt, er ist aus diesem Leben raus«, erklärte Morgan, die Lippen nicht länger zu einem Kussmund geschürzt.
»Das sage ich auch«, erwiderte ich leichthin. »Undich sage es nicht nur, ich meine es auch. Und ich kann Ihnen versprechen, dass ich nicht die Absicht habe, Ihren Mann zu irgendwas zu überreden, außer vielleicht zu dem Ossobuco auf der Tageskarte.«
Der Kussmund kehrte zurück, zusammen mit einem Lächeln.
»Da wären wir«, sagte Lemon.
Er trug vier Gläser in seinen großen Händen. Ich hatte vergessen, wie groß sie waren, außerdem flink und stark. Es hieß, in seiner Jugend seien Lemons Fäuste eine furchterregende Waffe gewesen. Das erinnerte mich an die alte Boxerweisheit, dass ein Mann, der hart zuschlug, immer einen Zufallstreffer landen konnte.
»Champagner für meine Lady«, sagte Lemon, »einen Dirty Wodka-Martini für Ms. Wynn, VSOP für LT und einen Gin Twist für Lenore Goodwomans Lieblingskind.«
Er stellte die Drinks formvollendet ab und machte dem Kellner ein Zeichen zu kommen. Es war ein älterer weißer Mann mit kahlem Kopf und einem Lächeln, das ein Stirnrunzeln sein wollte.
Das Essen wurde gebracht, und das Gespräch kam in Gang. Es ging vor allem um Dichter, Gedichte, Dichterlesungen und das Lesen im Allgemeinen.
»Ich glaube, das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts ist Vier Quartette von Eliot«, erklärte Morgan bestimmt. Sie war noch keine dreißig, doch sie hatte einen scharfen Verstand und eine konzentrierte Intelligenz.
»Was meinen Sie, Mr. McGill?«, fragte Lemons Freundin.
»Worüber?«
»Das wichtigste Buch.«
Ich kann meine Reaktion nur beschreiben, indem ich sage, ich bedachte sie mit meinem Blick. Es ist ein gewichtiges Starren, erfüllt von Gewalt und der Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte Morgan, ob sie eine Antwort auf ihre Frage hören wollte.
»Alle Religionen haben ihre Bücher«, sagte ich. »Sie sind sich gewiss, dass es nur eine Schrift gibt, die von Bedeutung ist.«
»Sind Sie religiös?«, fragte Tourquois.
»Nein.«
»Welches Buch würden Sie dann als das Wichtigste bezeichnen?«, beharrte Morgan.
»Nicht ein Buch, sondern vier«, sagte ich. »Und auch wenn sie einen enormen Einfluss auf das 20. Jahrhundert hatten, wurden nur zwei davon tatsächlich in dieser Zeit geschrieben.«
Bis zu dieser kleinen Vorrede hatte Morgan mich für den ungebildeten Verbrecherfreund des Objekts ihrer Zuneigung gehalten, den grundrenovierten Stanford »Sweet Lemon« Charles. Ich glaube, sie war mehr als nur ein wenig überrascht, dass ein hergelaufener Kleinkrimineller ein so nonchalantes Wissen über die Abgründe ihrer
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