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Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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Frage bewies.
    »Welche Bücher?«, fragte sie. Es war eine Herausforderung.
    » Das Kapital «, sagte ich und reckte meinen linken Daumen. » Die Traumdeutung , Die Abstammung des Menschen und die gesammelten Aufsätze, die die Relativitätstheorie erklären.«
    »Und warum diese Bücher?«, fragte Tourquois unvermittelt interessiert.
    »Weil diese Bücher uns erklären, warum wir nicht wissen, was geschieht«, sagte ich, »nur dass es geschieht und trotz unserer unvermeidlichen Ignoranz weiter geschehen wird.«
    Morgan wollte widersprechen, wollte irgendwas über Lyrik und deren Herzenstiefe sagen. Doch sie war abgelenkt von den Möglichkeiten, die meine Andeutungen aufscheinen ließen.
    »Das klingt wie etwas, was Bill Williams hätte sagen können«, meinte Tourquois.
    Volltreffer!
    »Ja«, erwiderte ich. »Lemon – ich meine, Stanford – hat gesagt, dass Sie diesen Williams kannten.«
    »Er hat vor fünf Jahren ein Seminar von mir besucht. Ich war beeindruckt von seinen Geschichten.«
    »Wie war er?«
    »Ein älterer Gentleman, wahrscheinlich Anfang siebzig. Aus dem wenigen, das er fallen ließ, bekam ich die Vorstellung, dass er ein sehr politisches Leben geführt und sich der Literatur erst zugewandt hatte, nachdem die Revolution nicht so ausgegangen war, wie er es erwartet hatte.«
    »Er schrieb an einem Roman?«
    »Er sagte, Gogol habe sein großes unvollendetes Werk Die toten Seelen genannt, ein Gedicht. Ich glaube, Bill hat auf gleiche Weise an einem Prosagedicht gearbeitet.«
    »Wovon handelte es?«
    »Es war im Stil des südamerikanischen magischen Realismus verfasst. Der Protagonist war ein gebürtigerSklave, der seinen Besitzern entkommen war und über Land reiste, um seine Brüder zu ermahnen, dass sie entweder als freie Männer und Frauen leben oder bei dem Versuch, es zu werden, sterben sollten. Dieser Mann, Plato Freeman, lebte viele Jahre, ohne zu altern. Aber im Laufe der Zeit wurde das, was er war und wusste, so rundweg ignoriert, dass er für die moderne Welt durchsichtig wurde. In seiner geisterhaften Gestalt bewegte er sich von Ort zu Ort und folgte dem Tun seiner Nachfahren, vor allem dem seiner beiden Ururenkel, die er beobachten konnte, ohne dass sie ihn sehen konnten.«
    Mir war nicht schwindelig, doch ich bezweifelte, dass ich in diesem Moment hätte aufstehen können.
    »Warum suchen Sie ihn?«, fragte Tourquois.
    »Dieses Buch, an dem er gearbeitet hat …«
    »Ja?«
    »Ich bin der Ururenkel Nummer eins.«

34
    Ich kam erst kurz nach Mitternacht nach Hause. Das Abendessen mit Lemon und seinen Freundinnen war nach all meiner Erfahrung einzigartig. Ich hatte an diesem Tisch geklebt wie eine fette, pelzige schwarze Fliege auf einem altmodischen Fliegenfänger. Ich wollte mich verdrücken, doch der Köder ebenso wie der Klebstoff hielten mich fest.
    Tourquois Wynn hatte meinen Vater eineinhalb Jahre gekannt. Er hatte ihre Seminare besucht und an seinem Roman gearbeitet. Sie hatte den Eindruck, dass er nicht die Absicht gehabt hatte, das Buch jemals zu beenden, dass es eher eine Buße war als etwas, das veröffentlicht oder auch nur von irgendjemandem außerhalb des Workshops gelesen werden sollte.
    Er trug immer einen dunklen Anzug und ein Hemd mit Kragen, aber keine Krawatte. Er trank ununterbrochen Kaffee, und wenn er mit der Gruppe zur Feier des Semesterabschlusses ausging, rauchte er echte kubanische Zigarren. Er hatte nie gesagt, wo er wohnte. Doch das beunruhigte mich nicht. Ich konnte Bug jederzeit bitten, sich in das Archiv der Uni einzuhacken.
    »Er war stets sehr präsent«, sagte Tourquois. »Man musste nicht wissen, woher er kam oder wer seine Familie war, denn – ich weiß nicht, wie ich das genau erklären soll – er war immer da, direkt vor einem, teilte seine Ideen mit und hörte sehr aufmerksam zu. Die normalen banalen Fragen schienen einfach unwichtig.«
    Seit Abschluss des Seminars hatte sie nichts mehr von ihm gehört, im Laufe der Jahre aber auch mehrmals ihre Telefonnummer geändert. Während des Essens entschuldigte Lemon sich zwei Mal, um draußen eine Zigarette zu rauchen. Zu der zweiten Rauchpause begleitete ich ihn.
    Er bot mir seine Parliaments an, und ich nahm eine, die erste Zigarette, die ich mir gönnte, seit ich – ebenfalls über einer Zigarette – das Todesurteil der vier jungen Männer unterschrieben hatte.
    »Tue ich eine gute Tat, LT ?«
    »Ja«, sagte ich, »wie ein Dealer an der Hintertür einer Rehaklinik.«
    »Ist er wirklich dein

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