Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
mit Kitteridge darüber gesprochen. Überhaupt nicht.«
»Das kann doch kein Zufall sein.«
»Vielleicht doch. Aber ich verspreche dir, dass ich der Sache nachgehe. Sobald die Sonne aufgeht.«
»Mycroft will mich sehen.«
»Geh nicht hin und antworte nicht.«
»Irgendwas muss ich machen.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Shelby ist ein mächtiger Mann, Leonid. Ich kann ihn nicht einfach ignorieren.«
»Möchtest du deine Frau zur Witwe machen und deine Kinder zu Halbwaisen?«
Schweigen.
Erschöpfung schwebte über mir wie ein dämonischer Bär. Wahrscheinlich bin ich bei allem, was mir im Kopf rumging, sogar kurz eingenickt.
»Ich gehe dieser Festnahme auf den Grund und melde mich wieder bei dir. Aber du solltest mit deiner Familie außer Sichtweite bleiben. Wenn du mich jetzt sehen könntest, wüsstest du warum.«
»Wie geht es deiner Familie?«, fragte der Anwalt versöhnlich.
»Sie atmen«, sagte ich. »Und sie schlafen.«
Twills Zimmer war leer. Ich zog meinen blauen Anzug aus, duschte als Ersatz für acht Stunden Schlaf eiskalt und zog einen anderen, identischen blauen Anzug an. Nachdem ich einen Becher französischen Röstkaffee aus der Cafétière getrunken hatte, stand ich um sechs Uhr vor meinem Haus auf der Straße.
In der Nähe der Ecke 93 rd Street und Broadway gab es ein Café namens Shep’s Schleps, im Grunde nicht mehr alsein Tresen mit einer Küche dahinter, die von sechs bis sechs Mahlzeiten außer Haus liefert. Dort belegte mir Sheps Frau Nina ein Sandwich mit Eiern, Speck, Senf und rohen Zwiebeln, während ich die Sportseite der aktuellen Ausgabe der Post las. Die Baseball-Saison war in vollem Gange. Die Yankees hatten die Mets bei den Subway Series mit zwei zu eins Spielen geschlagen, Wladimir Klitschko hatte es nicht geschafft, David Haye k. o. zu schlagen, jedoch den Titel im Schwergewicht verteidigt.
Sechs Minuten nach sieben war meine Wut auf ein vernünftiges Maß abgeklungen. Ich rief Twill auf dem Handy an und erreichte nur die Mailbox.
»Hier ist Twill«, sagte seine Stimme. »Hinterlasst eine Nachricht.«
»Sieh zu, dass du um eins im Büro bist«, erklärte ich dem elektronischen Dienst. »Du weißt schon, worum es geht.«
Das braune Mietshaus lag in der 94 th Street, ein Stück östlich vom Broadway. Ich las die Klingelschilder und drückte auf einen kleinen grünen Knopf.
»Ja?«, fragte eine Frau.
»Leonid McGill für Seldon Arvinil.«
»Worum geht es?«
»Eine Universitätsangelegenheit. Ich arbeite für den Sicherheitsdienst.«
»Was ist passiert?«
»Ist Mr. Arvinil zu Hause?«
»Ich hole ihn.«
»Mr. McGill?«, fragte etwa zwei Minuten später ein Mann über die Gegensprechanlage.
»Mr. Arvinil.«
»Ich komme sofort runter.«
Ich ging die Stufen vor dem Haus hinunter und blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen. Ich fragte mich, ob Seldon eine Pistole besaß. Durchaus möglich. Wie oft war der eifersüchtige Mann vom Objekt seiner Wut getötet worden? Während ich über diese Frage grübelte, tauchte ein schlaksiger weißer Mann an der Tür des braunen Apartmentturms auf. Er trug ein spießiges rot-braunes Freizeithemd und Jeans. Seine Hände waren leer, also winkte ich, anstatt eine Waffe zu ziehen.
»Mr. McGill?«, fragte er.
Ich schürzte die Lippen und nickte.
»Worum geht’s?«
»Kommen Sie runter, Mann.«
Arvinil hatte gebräunte Haut, buschiges braunes Haar mit einer Spur von Grau und braune Augen. Er neigte sich ein wenig nach hinten und fand dann irgendwoher den Mut, ohne zu stolpern, die Treppen hinunterzugehen. Er sah mir direkt in die Augen. Er war nicht ganz zehn Zentimeter größer als ich, ich knapp vierzig Pfund schwerer als er.
»Ja?«, fragte er.
»Sie wissen, warum ich hier bin?«
Statt zu antworten, verzog er das Gesicht.
»Sie ist noch ein Kind«, sagte ich.
»Nein.«
»Was nein?«
»Sie ist jung«, stotterte er, »eine junge Frau, die besser ist, als ich es verdient habe. Aber sie ist eine Frau und kein Kind.«
»Bloß weil ein Mädchen Sex haben kann, ist sie noch keine Frau.«
»Warum sind Sie hier, Mr. McGill?«
»Ihre Tochter ist nur ein paar Jahre jünger als Shelly«, sagte ich. Als er stumm blieb, fügte ich hinzu: »Was würden Sie und Ihre Frau dazu sagen?«
»Nach allem, was Shelly mir über Sie erzählt hat, würde ich damit glimpflich davonkommen«, sagte er.
Ein nächtliches Killerkommando war mir lieber. Die konnte ich bekämpfen und töten. Seldon hatte Mut, aber keine Muskeln, er war naiv, ohne
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