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Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Manhattan Fever: Ein Leonid-McGill-Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Mosley
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eine Ausrede dafür zu haben.
    »Warum?«, fragte ich ihn.
    »Hat noch nie eine junge Frau Ihr Herz zum Singen gebracht?«
    Ich nehme an, er erwartete, dass ich über die Frauen nachdachte, die ich gekannt hatte, junge und ältere. Doch woran ich dachte, waren die Lüge, mit der ich Shelly hatte leben lassen, und die Löcher in der Wand ihres Zimmers. Wenn sie nicht unterwegs gewesen wäre, um es mit diesem ergrauten Geschichtsprofessor zu treiben, wäre sie jetzt möglicherweise verletzt oder sogar tot, und es wäre meine Schuld.
    Meine Armmuskeln zuckten vor Gewaltlust und Erschöpfung. Ich erkannte, dass ich nichts würde sagen können, ohne auch handgreiflich zu werden, also drehte ich mich um und ging weiter Richtung Osten.

46
    Als ich den Park erreichte, war es noch vor acht. Irgendwo oberhalb der 101 st Street, ein paar hundert Meter in den Park hinein, gibt es einen großen Haufen Felsbrocken, die zusammen eine Steingrotte bildeten. Ich erklomm den menschengemachten Hügel und stellte erfreut fest, dass dort schon seit einer Weile niemand mehr gewesen war.
    Es würde ein heißer Tag werden, doch die Morgenluft war noch von der Kühle der Nacht erfüllt. Ich kauerte mich in die Felsenspalte und schloss die Augen. Der Schlaf übermannte mich sofort, und ich wurde zurückversetzt in die vergleichsweise friedliche Zeit meiner obdach- und orientierungslosen Adoleszenz.
    Meine Träume waren keine aus dem Material des Unbewussten geformten, undeutbaren Rätsel. Stattdessen handelten sie von Menschen, die ich kannte oder kennen wollte. Zella und Antoinette tauchten auf, außerdem Johann Brighton und noch jemand, jemand, der die Killer zu meiner papierdünnen Wohnungstür geschickt haben könnte.
    Mein Lebensweg schien vor mir auf – hart und klar. In dem Traum konnte ich umdrehen und alles zurücknehmen. Ich konnte durch die Zeit reisen und entscheiden, Zella nicht zu helfen oder Shelly nicht anzulügen. Ich konnte bis in den Mutterleib zurückkehren und ein anderer Mensch sein oder überhaupt niemand. Aber dafür fühlte ich mich auf diesem Quarzsockel in der Sommersonne viel zu wohl. Als ich so dort lag, war mir, als ob mein Leben genug Sinn ergab, um Nostalgie zu wecken – den größten Feind der menschlichen Logik.
    In meinem alten Versteck fand ich Trost. Dort konnte ich den bösen Machenschaften eines Feindes, die ich selbst durch mein törichtes Handeln in Bewegung gesetzt hatte, vorübergehend entkommen. Mein Herz war eine Blechtrommel, mein Atem das Seufzen eines einsamen, leicht verstimmten Cellos. Aber Musik ist, egal wie traurig sie sein mag, noch immer ein Trost für die Seele.
    Meine Träume wurden unverständlich, und ich lächelte. New York verblasste in meinem Bewusstsein. Ich war ganz allein in einer Wildnis vor dem Garten Eden, vor Gut und Böse …
    Als ich aufwachte, war ich vollkommen ausgeruht. Die Medizin hatte gewirkt. Das Fieber und die Entzündung, von der es ausgelöst worden war, waren aus meinem Körper verschwunden. Jemand versuchte, mich umzubringen, na und? Ich war wie neugeboren. Ein wiedergeborener Agnostiker, der aus der Asche des Glaubens aufgestiegen war.
    Ich nahm am Central Park ein Taxi und war um 12.58 Uhr in meinem Büro.
    »Ist Twill da?«, fragte ich Mardi.
    »Ja, ist er«, antwortete sie. Ich entdeckte ein Leuchten in ihren Augen. Wir, Twill und ich, waren ihre Lieblingsmänner, und sie war glücklich, wenn sie uns zusammen hinter einer Tür wusste, vor der sie Wache hielt.
    Twill saß an seinem Schreibtisch. Er stand auf, als ich näher kam.
    »Pops«, sagte er.
    An diesem Morgen trug mein Sohn Schattierungen von Grau – vom hell aschfarbenen Jackett bis zu den kohlefarbenen Schuhen an seinen nackten Füßen. Seine Hose hatte den Farbton eines nebligen Morgens am Meer, sein bleifarbenes Hemd tendierte ins Blaue.
    »Wähl diese Nummer«, sagte ich und nannte die Nummernfolge für ein Spezialhandy, das Bug Bateman meinem Anwalt vor langer Zeit gegeben hatte, »und stell das Gespräch auf laut.«
    »Klar. Wer ist es?«
    »Das wirst du schon hören.«
    »Hallo?«, meldete Breland sich nach dem vierten Klingeln.
    »Twill sitzt jetzt neben mir«, sagte ich und nickte meinem Lieblingssohn zu.
    »Mr. Lewis?«, sagte Twill mit einem minimalen Zucken um die Mundwinkel.
    »Ja, Twilliam?«
    »Breland hat mich heute Morgen angerufen«, sagte ich. »Er wollte wissen, wie Carson in die Sache mit Kent Mycroft verwickelt wurde.«
    »Hören Sie, Mann«, sagte Twill in Richtung

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