Manhattan
Nervosität? Traurigkeit?
»Nun, es ist sehr schön«, sagte Walter.
»Gut leben, gut sterben.«
Der Kellner trat an den Tisch und wurde mit der Bestellung von zwei Martinis weggeschickt. Es folgten frische Lachsscheiben, gekühlte Gurkensuppe, scharfe, mit Pfeffer gewürzte Schnecken in einer Sauce, die so undurchsichtig wie köstlich war, junge Kartoffeln – alles serviert und verzehrt inmitten der angenehmen Lärmkulisse eines überfüllten Restaurants. Das Klirren von Gläsern, das Klappern von Porzellan und Tafelsilber, die eiligen Schritte gehetzter Kellner, das laute Flüstern über Buch- und Bühnenverträge, das fröhliche Geplapper über Einkaufs-Expeditionen, die sotto voce ausgetauschten Beobachtungen darüber, wer mit wem gesehen wurde. Für Walter und Dieter war die Konversation angestrengt entspannt. Dieter hatte etwas zu sagen, war aber noch nicht bereit, es zu äußern, und die höfliche Kulisse musste gewahrt werden, und so sprachen sie über das Theater, Willy Brandt, Castro, Pier Angeli, das hervorragende Essen, Doktor Schiwago, über ihre jeweiligen Tenniskünste, und dann kam der Kaffee. Walter bot Zigaretten an, und Dieter sagte beiläufig: »Ich bin heute Morgen beim Arzt gewesen.«
»Oh?«
Walter wurde übel. Es war ein scheußliches Gefühl tief im Magen.
»Ein Jude«, sagte Dieter, »aber …«
»… der beste.«
Dieter nickte.
»Keine guten Nachrichten«, sagte er.
Walter hatte plötzlich das Gefühl, losweinen zu müssen. Wie er jetzt diesem zartgliedrigen Luden gegenübersaß, spürte er, dass ihm die Tränen in die Augen traten, als ihm aufging, dass Dieter ihn nur hergebeten hatte, um ihn darüber zu informieren, dass er den Tod vor sich sah. Er hatte ihn nur deshalb zu diesem … Abschiedsessen gebeten.
»Dieter, falls ich etwas für Sie tun kann …«
»Von Zeit zu Zeit ein Gebet.«
»Jeden Tag.«
»Was wissen Ärzte schon?«
»Sie sind fehlbar.«
Die Rechnung kam. Walter machte keinerlei Anstalten, sie zu übernehmen, und bestand auch nicht darauf, für sich zu bezahlen, da dies Dieter zutiefst beleidigt hätte. Dieter bezahlte in bar. Sie zogen ihre Mäntel an und schlenderten auf der 57. Straße nach Westen, als Dieter sagte: »Walter, ich mache mir Sorgen um Sie.«
»Sie wissen, dass ich Scandamerican verlassen habe.«
»Aber ich mache mir trotzdem Sorgen.«
Dieter ging sehr eng neben ihm, so dass sein Mantelärmel den von Walter berührte.
»Weswegen?«, fragte Walter.
»Ich höre so manches.«
Wieder diese scheußlich nagende Furcht.
»Was hören Sie, Dieter?«
»Über Sie und Senator Keneally«, erwiderte Dieter. »Über Sie und Marta Marlund.«
»Ein nicht ganz einfacher Auftrag, das ist alles.«
Hier auf dem Bürgersteig der quirligen 57. Straße. Unge
heurer Verkehrslärm, ungeheurer Lärm der Menschen. Kein Mikrophon der Welt kann uns jetzt abhören, dachte Walter.
Dieter sagte: »Das FBI interessiert sich sehr für Senator Keneally.«
»Was nur bedeutet, dass er ein US -Senator ist«, erwiderte Walter gleichmütig. Er fühlte sich aber nicht entsprechend, denn wenn die beiden grimmig dreinblickenden Herren, die er am Abend vor Martas Tod gesehen hatte, tatsächlich beim FBI arbeiteten, war er in Schwierigkeiten.
»Und eines Tages vielleicht sogar Präsident«, fügte Dieter hinzu.
»Vielleicht.«
»Hoover interessiert sich also sehr für sein Sexleben, ja?«, sagte Dieter lachend.
»Sie kennen doch J. Edgar«, sagte Walter. »Er schnüffelt gern in den Bettlaken von Leuten herum.«
»Inklusive Ihren.«
Walters Blut erstarrte ihm, wie man so sagt, plötzlich in den Adern. Aber so ist es tatsächlich, dachte Walter. Mir ist plötzlich ganz kalt geworden.
»Ach ja?«, fragte er.
»Ich höre so manches.«
Und dann war Dieters Hand in Walters Manteltasche und etwas Kaltes und Metallisches zwischen ihren warmen Händen. Ein Händedruck zum Abschied, und dann war die Hand verschwunden.
»Versprechen Sie mir eins. Nur wenn Sie es wirklich brauchen. Sonst ist es zu gefährlich.«
»In Ordnung.«
»Versprechen Sie es.«
»Ich verspreche es.«
Dieter blieb stehen und sagte: »Ich muss jetzt in die andere Richtung.«
»Also, vielen Dank für das Essen.«
»War mir ein Vergnügen«, erwiderte Dieter. »Ich fliege heute Abend nach Deutschland zurück.«
»So bald schon?«
»Es ist Zeit.«
»Nun, na dann …«
Und wieder hätte Walter am liebsten geweint, weil Dieter so zerbrechlich aussah, wie er dort auf dem Bürgersteig stand.
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