Manhattan
übergeben.«
»Da gibt es nichts zu überlegen«, entgegnete Walter. »Es ist eine Lügengeschichte. Brillant, aber trotzdem erlogen.«
Zaif stand auf. Er reichte Walter eine Karte und sagte: »Meine Nummer im Revier. Überlegen Sie es sich. Es wäre mir zuwider, Ihre Ermordung untersuchen zu müssen.«
»Ja, mir auch.«
Walter lauschte noch immer dem Jamal-Trio und räumte in seiner Wohnung auf, als Anne anrief.
»Alicia ist auch tot.«
Das weiß ich auch.
»Deine Freundin aus dem Cellar?«, fragte er. »Mein Gott, was ist passiert?«
»Sie wurde gestern Abend im Riverside Park vergewaltigt
und ermordet«, sagte Anne. »Der Scheißkerl hat sie vergewaltigt und ihr dann die Kehle durchschnitten.«
In Wahrheit war es andersherum, dachte er. Diese gründlichen Scheißkerle. Blonde Schauspielerinnen sterben in piekfeinen Hotels an Schnaps und Pillen. Schwarze Mädchen werden in Parks vergewaltigt und erstochen.
Er sagte: »Das ist ja schrecklich. Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Ich nehme an … ich weiß nicht …«
Das leise Geräusch ihres Weinens. Um ihre Freundin, um ihre Geliebte, um sich?, fragte sich Walter.
Nach einer Weile murmelte sie: »Es kommt mir vor, als würden alle sterben.«
»Es kann manchmal so aussehen.«
Dann in einem Ausbruch, als müsste sie es hervorpressen, bevor sie den Mut dazu verlor: »Walter, ich …«
»Sag um Gottes willen nicht, wo du bist.«
Weil wir für ein ganzes Leben genug Platten haben, wie kurz unser Leben auch sein mag. Ein zweites brauchen wir nicht.
»Tu's nicht«, wiederholte er streng und scharf, »sag nichts mehr. Und leg jetzt auf.«
Sie begann wieder zu weinen und fragte dann: »Kannst du kommen?«
»Bedaure, kann ich nicht.«
Weil dies etwas mehr Zeit braucht, um sich von allein zu regeln, dachte er. Er hörte jedoch an der Kälte ihrer Stimme, dass sie ihn falsch verstanden hatte. Es war der unverkennbare Tonfall einer Dame, die glaubt, den Laufpass erhalten zu haben. Und die sich betrogen fühlt.
»Na schön«, sagte sie. »Dann sehe ich dich, wenn du mir über den Weg läufst, nehme ich an.«
»Bald«, sagte er gleichmütig.
»Wann auch immer«, erwiderte sie und legte auf.
Er fand das Album von John Coltrane und Thelonious Monk, eines ihrer Weihnachtsgeschenke, und legte die Platte auf. Dann zündete er sich eine Zigarette an, setzte sich und lauschte, wie Coltrane die klagende Grundmelodie von »Ruby, My Dear« spielte, und hatte das Gefühl, gleich in Tränen auszubrechen.
Mein Gott, ich werde noch zu einer weinerlichen alten Schwuchtel, dachte er, als er eine Träne über die Wange rollen fühlte. Ich sollte wieder ein paar Dinge in Schachteln verstauen.
Es war eine Erinnerung aus der Zeit seiner Ausbildung, einer der wenigen nützlichen Grundsätze, die er sich damals gemerkt hatte. Alles, was Sie im Augenblick nicht bewältigen können, hatten sie ihm beigebracht, sollten Sie in eine mentale Schachtel legen. Verschließen Sie sie und vergessen Sie alles. Wenn Sie diese Disziplin beherrschen, haben Sie sich organisiert und verfügen über eine Reihe kleiner verschlossener Schachteln, die Sie nur öffnen, wenn die richtige Zeit gekommen ist … Dann nehmen Sie sich eine Schachtel nach der anderen vor.
Er bewunderte diese Technik und benutzte sie oft, doch jetzt schien sie ihm abhanden zu kommen.
Ich habe so viele Schachteln, dachte er in einem Moment gloriosen Selbstmitleids. Ich habe meine Keneally-Schachtel und meine Madeleine-Schachtel, meine McGuire-Schachtel, meine Morrison-Schachtel und meine Dieter-Schachtel. Und meine Anne-Schachtel, und das ist diejenige, die weggeschlossen werden muss, und zwar jetzt gleich. Das ist die gefährliche, das ist die Schachtel, die Liebe und Furcht enthält. Das ist diejenige, die mich ausrutschen lassen könnte, die den fatalen Fehler auslöst. Und habe ich diese Woche nicht schon ge
nug Leute umgebracht, und muss nicht auch noch die Frau töten, die ich liebe? Stopf alles in eine Schachtel und mach sie zu.
Er rauchte seine Zigarette zu Ende, ging dann ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht und gurgelte mit Mundwasser. Als die kleinen Rituale erledigt waren, hatte er seine Gefühle in die kleine mentale Schachtel mit der Aufschrift »Anne« gestopft und dafür die unter »Howard, Michael« abgelegte Schachtel geöffnet. Jetzt wappnete er sich für das, was er tun musste.
Was in diesem Fall bedeutete, in Sardi's Restaurant zu gehen.
Tony Cernelli erkannte ihn in dem Augenblick, in
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