Manhattan
erfüllt werden, bevor er am Boat Basin Verrat begehen konnte.
Er kam unsicher auf die Beine, erlangte wieder das Gleichgewicht und fand eine passende Mülltonne. Er breitete die belastenden Dokumente unter einer Zeitung von gestern aus – die Titelseite zeigte ein Foto von Schlittschuhläufern im Rockefeller Center und sein Bürogebäude im Hintergrund –, zündete eine Zigarette an und hielt das Feuerzeug an die Zeitung. Als er wegging, kam ein Penner an, rieb sich die behandschuhten Hände über der Tonne und wärmte sich an dem Feuer und dem allmählich heller werdenden Tageslicht.
Walter schlenderte durch die Wall Street, in der es jetzt von Pendlern wimmelte, die sich beeilten, die Räder von Kommerz und Handel in Gang zu bringen, um zu kaufen und zu verkaufen. Eine angemessene Umgebung, dachte Walter.
Er ging zu einer Telefonzelle und wählte die Nummer der Contessa.
»Mein Lieber, sind Sie verrückt geworden?!«, fragte sie, nachdem sie beim siebten Läuten abgenommen hatte. »Es ist mitten in der Nacht!«
Gleichwohl erklärte sie sich bereit, Anne zu wecken, die verschlafen ans Telefon kam.
Ohne jede Vorrede sagte Walter: »Ich weiß alles.«
»Was?«
»Ich weiß alles.«
Langes Schweigen. Ein Schweigen, das er schon bei so vielen Agenten gehört hatte, denen er gerade die schlechte Neuigkeit überbracht hatte. Oder unsere Jungs mit den steinernen Gesichtern lassen mal ein Wort bei euren fallen …
»Wer bist du?«, fragte sie.
Statt zu antworten, sagte er: »Liebst du mich?«
Wieder Stille, bevor sie erwiderte: »Oui, je t ' aime.«
»Vertraust du mir?«
»Mein Gott, vertraust du mir?«
»Vertraust du mir?«
Wie vielen Agenten hatte er diese Frage schon gestellt? Auf wie vielen Parkbänken, in wie vielen Cafés? Auf wie vielen langen und seelenvollen Spaziergängen durch wie viele städtische Parks, an wie vielen Flussufern? Wie oft am Ufer der schwarzen, kalten und zornigen Insel Skeppsholmen in jenen bitteren Stockholmer Tagen? Vertraust du mir ? So gesprochen, dass der Agent nicht nein sagen konnte.
»Ja.«
»Dann rühr dich nicht von der Stelle. Verstehst du?«
»Ja.«
»Bleib wo du bist«, befahl er. »Geh nicht aus, lass niemanden rein und geh nicht ans Telefon, es sei denn, ich bin's.«
Komisch, dachte er, selbst am Telefon kann man ein Zögern spüren.
»Ich fange morgen Abend wieder an zu arbeiten«, sagte sie. Und fügte dann hinzu: »Im Rainbow Room.«
Morgen wird alles vorbei sein, dachte er.
»Rühr dich nicht von der Stelle, bis du wieder von mir hörst«, sagte er.
»Ich …«
»Vertraust du mir?«
»Ja«, sagte sie. »Hasst du mich?«
»Nein«, sagte er.
» Je t'aime .«
» Je t'aime aussi .«
Das tue ich wirklich, dachte er, als er auflegte.
Meine liebe Verräterin.
»Sie sind heute früh dran, Mr. Walter«, sagte Mallon. »Ich werde den Kaffee und den Kopenhagener raufschicken.«
»Sie sind absolut unbezahlbar«, erwiderte Walter.
»Ich möchte ja nicht aufdringlich sein«, sagte Mallon, »aber sehe ich da Blut, Mr. Withers?«
»Ich habe heute Morgen eine Rasierklinge fallen lassen, bückte mich, um sie aufzuheben, und vergaß, dass ich mit dem Kopf unter dem Waschbecken war«, sagte Walter.
»Aua.«
»Dummheit hat ihren Preis«, bemerkte Walter trocken.
»Sie sollten das mal untersuchen lassen.«
»Wenn Sie sagen, dass ich mal meinen Kopf untersuchen lassen sollte, haben Sie nicht ganz unrecht.«
Mallon lachte und sagte dann ernst: »Gibt es etwas, was ich für Sie tun kann, Mr. Withers?«
Walter zögerte kurz, sagte dann aber: »Ob Sie vielleicht auf Fremde achten könnten?«
»Fremde?«
»Auf jeden, der nicht hierher zu gehören scheint.«
Mallon warf ihm den skeptischen Blick eines altgedienten Portiers zu.
»Sie haben eine Rasierklinge fallen lassen«, sagte er.
»Eine von Schick, ja.«
»Tückische Dinger.«
»Genau wie Waschbecken.«
Dann hinauf in sein schmales Handtuch von Büro. Er hatte das Gefühl, ohne den gewohnten Morgenkaffee und das Gebäck mit leeren Händen zu kommen. In seinem Kopf pochte es, doch er fühlte sich auch merkwürdig … freudig erregt wäre zu viel gesagt … vielleicht resigniert. Jedenfalls zufrieden damit, für ein paar Stunden in den beruhigenden Trott der Schreibtischarbeit zu verfallen.
Er trat ans Fenster, genoss seine Teilaussicht auf Saks und die St.-Patricks-Kathedrale und sah zu, wie 16 C ohne jede Begeisterung seinen Arbeitsplatz betrat. An diesem Morgen winkte er 16 C nicht zu. Der
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