Mann im Dunkel
kümmern. Die andere beharrt darauf, sie selbst werde niemals so sein. Was hat die Familie für einen Sinn, wenn man sich so beträgt?, sagt sie. Noriko wiederholt ihre Ausführungen und versucht sie mit dem Hinweis zu trösten, dass es Kindern nun einmal so gehe, daran sei nichts zu ändern. Es folgt eine lange Pause, und dann sieht die junge Frau ihre Schwägerin an und sagt: Das Leben ist enttäuschend, findest du nicht? Noriko erwidert ihren Blick und antwortet mit abwesender Miene: Ja, das finde ich auch.
Die Lehrerin geht zur Arbeit, und Noriko beginnt aufzuräumen (was mich an die Frauen in den anderen Filmen erinnert, von denen Katya heute Abend gesprochen hat), und dann kommt die Szene mit der Uhr, der Augenblick, auf den der ganze Film zugeschnitten ist. Der alte Mann tritt aus dem Garten ins Haus, und Noriko sagt ihm, sie werde mit dem Nachmittagszug abreisen. Sie setzen sich hin und reden, und ich kann mich ziemlich genau an den Hergang dieses Gesprächs erinnern, da es mich so sehr beeindruckt hatte, dass ich Katya nach dem Ende des Films bat, die Szene noch einmal ablaufen zu lassen. Ich wollte den Dialog genauer untersuchen, um herauszufinden, wie Ozu das zuwege gebracht hat.
Zunächst bedankt der alte Mann sich für alles, was sie für ihn getan hat, aber Noriko schüttelt nur den Kopf und sagt, gar nichts habe sie getan. Der alte Mann drängt weiter und erklärt, sie sei ihm eine große Hilfe gewesen, und seine Frau habe oft erwähnt, wie freundlich sie zu ihr gewesen sei. Auch dieses Lob weist Noriko zurück, was sie getan habe, sei nicht der Rede wert. Unbeirrt fährt der alte Mann fort, seine Frau habe ihm erzählt, bei Noriko habe sie sich in Tokio am wohlsten gefühlt. Sie hat sich solche Sorgen um deine Zukunft gemacht, sagt er. So kann es mit dir nicht weitergehen. Du musst wieder heiraten. Vergiss diesen X (seinen Sohn, ihren Mann). Er ist tot.
Noriko verschlägt es die Sprache, aber der alte Mann will noch immer nicht aufgeben und das Gespräch enden lassen. Wieder zitiert er seine Frau: Sie hat gesagt, du seist die netteste Frau, die sie jemals kennengelernt habe. Worauf Noriko erwidert, seine Frau habe sie überschätzt, aber der alte Mann bleibt hartnäckig dabei, sie irre sich. Allmählich gerät Noriko aus der Fassung. Ich bin nicht die nette Frau, für die du mich hältst, sagt sie. In Wirklichkeit bin ich ziemlich egoistisch. Und dann erklärt sie, sie denke ganz und gar nicht ständig an seinen Sohn, oft komme er ihr tagelang nicht in den Sinn. Nach einer kleinen Pause gesteht sie, wie einsam sie sei, wie sie in schlaflosen Nächten im Bett liege und sich frage, was aus ihr werden solle. Mein Herz scheint auf etwas zu warten, sagt sie. Ich bin egoistisch.
DER ALTE Mann: Nein, das bist du nicht.
NORIKO: Doch, das bin ich.
DER ALTE Mann: Du bist eine gute Frau. Eine ehrbare Frau.
NORIKO : Nein, das bin ich nicht.
An dieser Stelle kann Noriko schließlich nicht mehr an sich halten und bricht in Tränen aus, sie legt die Hände vors Gesicht und schluchzt laut auf – diese junge Frau, die so lange schweigend gelitten hat, diese gute Frau, die nicht glauben mag, dass sie gut ist, denn nur die Guten zweifeln an ihrer Güte, und ebendies macht sie zu guten Menschen. Die Schlechten wissen, dass sie gut sind, aber die Guten wissen nichts. Sie verbringen ihr Leben damit, anderen zu verzeihen, aber sich selbst verzeihen können sie nicht.
Der alte Mann steht auf, und wenige Augenblicke später kommt er mit der Uhr zurück, einem altmodischen Chronometer mit einem Metalldeckel vor dem Ziffernblatt. Die habe seiner Frau gehört, erklärt er, und jetzt solle Noriko sie haben. Nimm sie ihr zuliebe, sagt er. Sie würde sich bestimmt darüber freuen.
Gerührt von dieser Geste, dankt ihm Noriko, noch immer laufen ihr Tränen über die Wangen. Der alte Mann betrachtet sie mit nachdenklicher Miene, aber was er denkt, erfahren wir nicht, denn seine Gefühle bleiben hinter einer Maske düsterer Neutralität verborgen. Als er Noriko so bitterlich weinen sieht, macht er eine simple Feststellung, und die Worte kommen so offen und unsentimental aus seinem Mund, dass Noriko nicht anders kann, als erneut in lautes Schluchzen auszubrechen – sie weint zum Erbarmen, ein Elend tut sich kund, so tief und schmerzlich, als sei der innerste Kern ihrer Seele entzweigerissen.
Ich möchte, dass du glücklich bist, sagt der alte Mann.
Ein einziger kurzer Satz, und Noriko sackt zusammen, erdrückt von der Last
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