Mann im Dunkel
seit Katya mit ihren allgegenwärtigen American Spirits das Haus besetzt, bin ich den schmutzigen alten Lüsten wieder verfallen und schnorre mir ständig welche, während wir uns Seite an Seite auf dem Sofa durch den gesamten Korpus des Weltkinos wühlen und dabei Rauch ausstoßen wie zwei Lokomotiven, die der verhassten, unerträglichen Welt davonfahren, ohne Bedauern, möchte ich hinzufügen, ohne Reue und ohne die geringsten Gewissensbisse. Was zählt, ist allein die Kameradschaft, das Verschwörerische, die Leckmich-Solidarität der Verdammten.
Apropos Film – mir fällt noch ein Beispiel für Katyas Liste ein. Ich darf nicht vergessen, ihr gleich morgen früh, beim Frühstück im Esszimmer, davon zu erzählen, denn das wird ihr gefallen, und wenn ich damit ein Lächeln auf ihre erloschene Miene locken könnte, wäre immerhin ein gutes Werk getan.
Die Uhr am Ende von Die Reise nach Tokio. Wir haben ihn vor ein paar Tagen gesehen, beide zum zweiten Mal, wobei mein erstes schon einige Jahrzehnte zurücklag, Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre; im Grunde wusste ich nur noch, dass er mir damals gefallen hatte, an Einzelheiten der Handlung konnte ich mich nicht erinnern. Ozu, neunzehnhundertdreiundfünfzig, acht Jahre nach der Niederlage Japans. Ein langsamer, getragener Film, der die einfachste aller Geschichten erzählt, jedoch mit solcher Eleganz und Tiefe des Gefühls, dass mir am Ende Tränen in den Augen standen. Manche Filme sind so gut wie Bücher, so gut wie die besten Bücher (ja, Katya, ich gebe es zu), und dieser gehört fraglos dazu – ein Kunstwerk, so subtil und bewegend wie eine Novelle von Tolstoi. Ein alterndes Paar reist nach Tokio, um die erwachsenen Kinder zu besuchen: einen erfolglosen Arzt, der selbst Frau und Kinder hat, eine verheiratete Tochter, die einen Schönheitssalon betreibt, und eine Schwiegertochter, deren Mann im Krieg gefallen ist. Die junge Witwe lebt allein; sie arbeitet in einem Büro. Von Anfang an ist klar, Sohn und Tochter empfinden die Anwesenheit ihrer alten Eltern als Belastung, als Störung. Sie haben mit ihrer Arbeit und ihren Familien genug zu tun, haben keine Zeit, sich richtig um die beiden zu kümmern. Nur die Schwiegertochter gibt sich Mühe, ihnen herzlich zu begegnen. Schließlich reisen die Eltern wieder ab und kehren an ihren Heimatort zurück (der nie namentlich erwähnt wird, glaube ich, oder aber ich habe an der entscheidenden Stelle geblinzelt, gehustet und es verpasst). Ein paar Wochen später – einfach so, ohne vorangehende Krankheit – stirbt die Mutter. Nun verlagert sich die Handlung des Films ins Haus der Eltern in jener namenlosen Stadt. Die erwachsenen Kinder reisen aus Tokio zur Beerdigung an, zusammen mit der Schwiegertochter, Norika oder Noriko, ich erinnere mich nicht mehr, bleiben wir einfach bei Noriko. Von irgendwoher taucht ein zweiter Sohn auf, und dann ist da noch das Jüngste der Geschwister, eine Frau von Anfang zwanzig, die noch zu Hause lebt und als Grundschullehrerin arbeitet. Man begreift schnell, dass sie Noriko nicht nur verehrt und bewundert, sondern auch allen anderen Geschwistern vorzieht. Nach der Beerdigung sieht man die Familie zum Mittagessen um einen Tisch versammelt, und wieder sind der Sohn und die Tochter aus Tokio mit allem Möglichen beschäftigt und so sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten befasst, dass sie ihrem Vater keine große Stütze sind. Sie beginnen auf die Uhr zu sehen und beschließen, noch mit dem Nachtexpress zurückzufahren. Auch der zweite Bruder will gleich wieder fort. Sie verhalten sich nicht absichtlich grausam oder herzlos – vielmehr geht es Ozu darum zu zeigen, dass sie lediglich abgelenkt sind, dass ihr eigenes Leben ihnen alles abverlangt, dass sie eben auch andere Verpflichtungen haben. Nur die sanftmütige Noriko bleibt, sie will ihren trauernden Schwiegervater nicht im Stich lassen (gewiss, es handelt sich um eine hinter steinerner Miene verschlossene Trauer, aber Trauer ist es doch). Am Ende ihres ausgedehnten Besuchs sitzen sie und die Lehrerin-Tochter gemeinsam bei einem letzten Frühstück.
Die junge Frau ist noch immer verärgert über die hastige Abreise ihrer Geschwister. Sie sagt, sie hätten länger bleiben sollen, und nennt sie egoistisch, aber Noriko verteidigt ihr Verhalten (auch wenn sie selbst nie so gehandelt hätte) und erklärt, am Ende sei es immer so, die Kinder entfernten sich von ihren Eltern, schließlich hätten sie sich um ihr eigenes Leben zu
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