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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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ihres Lebens. Ich möchte, dass du glücklich bist. Während sie noch immer weint, macht ihr Schwiegervater eine letzte Anmerkung. Es ist seltsam, sagt er fast ungläubig. Wir haben eigene Kinder, und doch bist du es, die am meisten für uns getan hat.
    Schnitt zur Schule. Wir hören Kinder singen, und gleich darauf stehen wir im Klassenzimmer der jüngsten Tochter. In der Ferne erklingt ein Signalton. Die junge Frau sieht auf ihre Uhr und tritt ans Fenster. Ein Zug rattert vorbei: Es ist der Nachmittagsexpress, der ihre geliebte Schwägerin nach Tokio zurückbringt.
    Schnitt auf den Zug – das Donnern der Räder, die auf den Gleisen rollen. Wir rasen der Zukunft entgegen.
    Sekunden später befinden wir uns in einem der Wagen. Noriko, allein am Abteil, starrt geistesabwesend ins Leere. Einige Augenblicke vergehen, dann nimmt sie die Uhr der Schwiegermutter von den Knien. Sie klappt den Deckel auf, und plötzlich hören wir den Sekundenzeiger ticken. Noriko vertieft sich in den Anblick der Uhr, ihre Miene ist traurig und zugleich versonnen, und während wir mit ihr zusammen die Uhr auf ihrer Handfläche betrachten, spüren wir, es ist die Zeit selbst, die wir betrachten, die davonjagt wie der Zug, uns Leben und immer mehr Leben bringt, aber auch Vergangenheit anhäuft, die Vergangenheit der Schwiegermutter, Norikos Vergangenheit, die Vergangenheit, die in der Gegenwart weiterlebt, die Vergangenheit, die wir mit uns in die Zukunft tragen.
    Das Kreischen der Lokpfeife dröhnt in unseren Ohren, ein grausames, durchdringendes Geräusch. Das Leben ist enttäuschend, findest du nicht?
    Ich möchte, dass du glücklich bist.
    Und dann ist die Szene abrupt zu Ende.
     
     
     
    Witwen. Frauen, die allein leben. Ein Bild der schluchzenden Noriko in meinem Kopf. Unmöglich, jetzt nicht an meine Schwester zu denken – und an das glücklose Blatt, das ihr zuteil wurde, die Heirat mit einem Mann, der so jung starb. Das gärt in mir, seit ich angefangen habe, über den Bürgerkrieg nachzudenken: die Tatsache, dass mir in meinem Leben alles Militärische erspart geblieben ist. Eine Gnade der Geburt, reine Glückssache, dass ich neunzehnhundertfünfunddreißig auf die Welt gekommen bin, zu jung für Korea und zu alt für Vietnam, und dann noch das Glück, dass ich neunzehnhundertsiebenundfünfzig nach meiner Einberufung wieder ausgemustert wurde. Man hatte Herzgeräusche festgestellt (was sich später als Fehldiagnose erwies) und mich als untauglich eingestuft. Also kein Krieg, auch wenn ich einmal in etwas Ähnliches hineingeraten bin, damals, als ich mich mit Betty und ihrem zweiten Mann, Gilbert Ross, zum Essen traf. Das war neunzehnhundertsiebenundsechzig, im Sommer vor genau vierzig Jahren, und wir drei saßen in einem inzwischen längst verschwundenen Chinarestaurant in der Upper East Side, an der Lexington Avenue, sechsundsechzigste oder siebenundsechzigste Straße, wenn ich nicht irre. Sofia war mit der sieben Jahre alten Miriam in Frankreich zu Besuch bei ihren Eltern in der Nähe von Lyon. Ich sollte später nachkommen, aber fürs Erste hockte ich in unserem Schuhkarton von einer Wohnung am Riverside Drive und schwitzte für Harper’s an einem umfangreichen Artikel über neueste, vom Vietnamkrieg inspirierte amerikanische Poesie und Prosa – eine Klimaanlage hatten wir nicht, nur einen billigen Plastikventilator. Meine Poren ächzten unter einer der üblichen New Yorker Hitzewellen, mir strömte der Schweiß herunter, während ich in Unterwäsche am Schreibtisch schuftete. Wir waren damals knapp bei Kasse, aber Betty, sieben Jahre älter als ich, saß, wie man so sagt, im warmen Nest und konnte es sich leisten, ihren kleinen Bruder gelegentlich zum Essen einzuladen. Nach einer schlimmen ersten Ehe, die viel zu lange gehalten hatte, hatte sie vor drei Jahren Gil geheiratet. Eine kluge Wahl, wie ich fand – jedenfalls sah es damals so aus. Gil verdiente sein Geld als Gewerkschaftsanwalt und Streikschlichter und war überdies seit den frühen Sechzigern als Syndikus für die Newarker Stadtverwaltung tätig; als er und meine Schwester an diesem Abend vor vierzig Jahren nach New York kamen, fuhr er schon einen Dienstwagen mit Sprechfunkgerät. An das Essen selbst habe ich keinerlei Erinnerung mehr, doch als wir zum Auto zurückgingen und Gil den Motor anließ, um mich nach Hause zu bringen, drangen hektische Stimmen aus dem Lautsprecher – offenbar Polizisten, die berichteten, dass im Central Ward von Newark das Chaos

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