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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Nacht: noch gut vier Stunden totzuschlagen, und jede Hoffnung auf Schlaf zunichte. Die einzige Lösung ist, Brick hinter mir zu lassen, ihm ein anständiges Begräbnis zu besorgen, und mir dann eine andere Geschichte auszudenken. Diesmal etwas Bodenständiges, ein Gegengewicht zu der phantastischen Maschinerie, die ich vorher in Gang gesetzt hatte. Giordano Bruno und die Theorie unendlicher Welten. Anspruchsvoller Stoff, gewiss, aber es gibt noch andere Brocken auszugraben.
    Kriegsgeschichten. Kaum verlässt man für einen Augenblick seine Deckung, fallen sie über einen her, eine nach der anderen …
     
     
     
       Im Verlauf unserer letzten Europareise fuhren Sonia und ich für ein paar Tage nach Brüssel, um an einem Treffen eines entfernten Zweigs ihrer Familie teilzunehmen. Einmal waren wir mit einem Vetter zweiten Grades zum Lunch verabredet; der alte Herr ging schon auf die achtzig zu, ein ehemaliger Verleger, der in Belgien aufgewachsen und später nach Frankreich gezogen war, ein umgänglicher, belesener Mensch, der in komplexen, klar strukturierten Absätzen sprach, ein Buch auf zwei Beinen. Das Restaurant lag in einer Arkade irgendwo im Stadtzentrum, und bevor wir zum Essen hineingingen, führte er uns in einen kleinen Innenhof am Ende des Säulenganges und zeigte uns einen Brunnen, in dessen Mitte eine bronzene Wassernixe saß. Als Kunstwerk war die Statue nicht sonderlich bemerkenswert – ein nicht ganz lebensgroßes nacktes Mädchen von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren –, aber trotz der unbeholfenen Ausführung hatte sie etwas Anrührendes; womöglich war es die geschwungene Linie ihres Rückens oder ihre winzigen Brüste und die schmalen Hüften oder auch nur die insgesamt verkleinerte Darstellung als solche. Während wir drei dort standen und die Statue betrachteten, sagte Jean-Luc, sie sei erst siebzehn gewesen, als sie dem Künstler Modell gestanden habe, später habe sie an seinem Gymnasium Literatur unterrichtet. Wir machten kehrt und gingen ins Restaurant, und beim Essen erzählte er uns mehr von seiner Beziehung zu dieser Frau. Ihr habe er die Liebe zu Büchern zu verdanken, sagte er, denn als Schüler sei er heftig in sie verknallt gewesen, und diese Liebe sollte am Ende den Gang seines Lebens verändern. Jean-Luc war zwar erst fünfzehn, als die Deutschen neunzehnhundertvierzig Belgien besetzten, schloss sich aber einer im Untergrund wirkenden Widerstandszelle an und arbeitete als Kurier; tagsüber ging er zur Schule, nachts machte er seine Botengänge. Auch seine Lehrerin war im Widerstand tätig, bis zu jenem Morgen im Jahr neunzehnhundertzweiundvierzig, als die Deutschen in das Gymnasium marschierten und sie gefangen nahmen. Wenig später wurde Jean-Lucs Zelle infiltriert und schließlich zerschlagen. Er habe sich ein Versteck suchen müssen, sagte er; in den letzten achtzehn Kriegsmonaten lebte er allein in einer Dachstube und tat nichts anderes als Bücher lesen. Er las alles, jedes Buch, von den alten Griechen über die Renaissance bis zum zwanzigsten Jahrhundert, Romane und Theaterstücke, Gedichte und Philosophie, wobei ihm bewusst war, dass ihm dies ohne den Einfluss seiner Lehrerin niemals möglich gewesen wäre, jener Lehrerin, die vor seinen Augen festgenommen worden war und für die er nun jeden Abend betete. Als der Krieg endlich vorbei war, erfuhr er, dass sie das Lager nicht überlebt hatte, aber niemand konnte ihm sagen, wie oder wann sie gestorben war. Sie war einfach ausgelöscht, vom Antlitz der Erde getilgt worden, kein Mensch wusste, was mit ihr geschehen war. Einige Jahre später (Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger?) aß er eines Tages allein in einem Brüsseler Restaurant und bekam zufällig ein Gespräch zweier Männer am Nachbartisch mit. Einer der beiden war zur Zeit des Krieges in einem Konzentrationslager gewesen, und während er dem anderen die Geschichte einer seiner Mitgefangenen erzählte, glaubte Jean-Luc immer deutlicher zu verstehen, dass der Mann von seiner Lehrerin sprach, von der kleinen Wassernixe im Brunnen auf dem Innenhof. Alle Einzelheiten schienen zu passen: ein belgisches Mädchen von Mitte zwanzig, rote Haare, ziemlich klein, außerordentlich schön, eine linke Unruhestifterin, die sich der Anordnung eines Lagerwächters widersetzt hatte.
    Um ein Exempel zu statuieren und den anderen Gefangenen vor Augen zu führen, was mit Leuten geschehe, die den Anweisungen der Wächter nicht Folge leisteten, habe der Kommandant

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