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Mann im Dunkel

Mann im Dunkel

Titel: Mann im Dunkel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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könne sie nicht gut genug vortragen. Ich bewunderte ihre Ehrlichkeit, aber es steckte auch etwas Trauriges darin, als halte sie sich für zweitrangig und dazu verurteilt, immer eine oder zwei Klassen unter den Besten zu bleiben. Deswegen hat sie keine Opern gesungen. Lieder, Stücke für Chor und Ensemble, anspruchslose Solokantaten – nie hat sie sich über dergleichen hinausgewagt. Ob wir uns gestritten haben? Natürlich haben wir uns gestritten. Alle Paare streiten sich, aber sie wurde niemals boshaft oder grausam. In den meisten Fällen, muss ich zugeben, traf ihre Kritik an mir voll ins Schwarze. Für eine Französin erwies sie sich als ziemlich schlechte Köchin, aber sie aß gerne gut, und so gingen wir nicht selten in Restaurants. Gegenüber häuslichen Dingen eher gleichgültig, absolut kein Interesse an Besitztümern – ich erwähne das als Kompliment –, und obwohl sie eine schöne junge Frau war mit einem anbetungswürdigen Körper, kleidete sie sich nicht besonders gut. Sie liebte Kleider, schien aber nie die richtigen für sich auszuwählen. Ehrlich gesagt, mitunter habe ich mich neben ihr einsam gefühlt, allein mit meiner Arbeit, verbrachte ich doch die meiste Zeit mit Lesen und Schreiben über Bücher, während sie nur selten las und, wenn sie es doch einmal tat, Schwierigkeiten hatte, darüber zu reden.
    Mir kommt es vor, als seist du enttäuscht gewesen.
    Nein, nicht enttäuscht. Ganz und gar nicht. Zwei Frischverheiratete, die sich allmählich an die Schwächen und Marotten des anderen gewöhnen, die Offenbarungen der Intimität. Alles in allem waren es glückliche Zeiten für mich, für uns beide, wir hatten wenig aneinander auszusetzen, und als der Damm in Afrika schließlich gebaut war, gingen wir nach New York zurück. Da war Sonia im dritten Monat schwanger.
    Wo habt ihr gewohnt?
    Ich dachte, du interessierst dich nicht für Immobilien.
    Das stimmt auch. Ich streiche die Frage.
    Wir sind im Lauf der Jahre mehrmals umgezogen. Als deine Mutter geboren wurde, wohnten wir in der vierundachtzigsten Straße West, nicht weit vom Riverside Drive. Eine der windigsten Straßen der Stadt.
    Wie war sie als Baby?
    Angenehm und schwierig. Kreischen und Lachen. Ein Wonneproppen und zugleich eine entsetzliche Nervensäge.
    Mit anderen Worten: ein Baby.
    Nein. Das beste aller Babys. Denn sie war unser Baby, und unser Baby war wie kein anderes auf dieser Welt.
    Wie lange hat Grandma gewartet, bis sie wieder aufgetreten ist?
    Mit den Konzertreisen hatte sie für ein Jahr ausgesetzt, aber in New York trat sie schon wieder auf, als Miriam gerade drei Monate zählte. Du weißt, was für eine gute Mutter sie war – das muss dir deine eigene Mutter hundertmal erzählt haben –, aber sie hatte eben auch ihren Beruf. Dafür war sie geboren, und mir wäre nicht im Traum eingefallen, sie davon abzubringen. Trotzdem hatte sie ihre Zweifel, besonders in der ersten Zeit. Als Miriam etwa sechs Monate alt war, kam ich einmal ins Schlafzimmer und sah Sonia neben dem Bett knien, mit gefalteten Händen und erhobenem Kopf murmelte sie vor sich hin. Mein Französisch war inzwischen ganz gut, und so verstand ich jedes Wort. Zu meiner Verblüffung stellte sich heraus, dass sie betete. Lieber Gott, gib mir ein Zeichen und sag mir, was ich mit meiner kleinen Tochter machen soll. Lieber Gott, fülle die Leere in mir und lehre mich lieben, verzeihen, mich anderen hinzugeben. Sie sah aus und klang wie ein Kind, ein kleines, einfältiges Kind, und ich muss sagen, ich war ein wenig irritiert – aber auch bewegt, zutiefst bewegt. Mir war, als sei eine Tür aufgestoßen worden, als kniete da eine neue Sonia, eine andere als die, die ich seit fünf Jahren kannte. Als sie meine Anwesenheit spürte, drehte sie sich um und lächelte mich verlegen an. Entschuldige, sagte sie, ich wollte nicht, dass du davon erfährst. Ich ging zum Bett und setzte mich hin. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, sagte ich. Ich bin nur ein bisschen verwirrt, das ist alles. Danach haben wir uns lange unterhalten, mindestens eine Stunde saßen wir nebeneinander auf dem Bett und sprachen über die Geheimnisse ihrer Seele. Sonia erklärte, angefangen habe es gegen Ende ihrer Schwangerschaft, Mitte des siebten Monats. Eines Nachmittags, sie ging gerade durch die Straßen nach Hause, stieg völlig unvermittelt ein Glücksgefühl in ihr auf, ein unerklärliches, überwältigendes Glücksgefühl. Ihr war, als ströme das ganze Universum in ihren Körper, sagte

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