Mann im Dunkel
New York war es per Gesetz verboten, dass unverheiratete Paare sich allein im selben Zimmer aufhielten. Jedes Hotel hatte einen eigenen Aufpasser, und wenn der einen erwischte, kam man ins Gefängnis.
Entzückend.
Also, was tun? Sonia war in Princeton aufgewachsen und hatte noch immer Freunde dort. Vor allem ein Ehepaar – die Gontorskis – werde ich niemals vergessen, ein Physikprofessor und seine Frau, Flüchtlinge aus Polen, die Sonia sehr gern mochten und denen die amerikanischen Sexualgebräuche vollkommen schnuppe waren. An den Wochenenden überließen sie uns ihr Gästezimmer. Und dann hatten wir natürlich auch Sex im Freien, Schönwettersex auf Feldern und Wiesen außerhalb der Stadt. Mit hohem Risiko verbunden. Als uns dann tatsächlich einer nackt in den Büschen erwischte, bekamen wir kalte Füße und verzichteten fortan auf solch riskante Unternehmungen. Ohne die Gontorskis wäre es für uns die Hölle gewesen.
Warum habt ihr nicht einfach geheiratet? Ich meine, noch während des Studiums.
Vergiss den Wehrdienst nicht. Sobald ich mit dem College fertig gewesen wäre, hätte meine Musterung angestanden, und danach wäre ich aller Voraussicht nach für zwei Jahre verpflichtet gewesen. Sonia war, als mein Studium zu Ende ging, bereits als professionelle Sängerin tätig – was, wenn man mich nach Westdeutschland, Grönland oder Südkorea schickte? Hätte ich sie bitten sollen, mit mir mitzugehen? Das wäre nicht fair gewesen.
Aber du bist doch nie eingezogen worden, oder? Schließlich habt ihr neunzehnhundertsiebenundfünfzig geheiratet.
Ich wurde ausgemustert. Aufgrund einer falschen Diagnose, wie sich später herausstellte – aber egal, ich war frei, und einen Monat später haben wir geheiratet. Geld hatten wir natürlich nicht viel, aber richtig verzweifelt war unsere Lage auch wieder nicht. Sonia hatte ihr Studium an der Juilliard abgebrochen, ihre Karriere lief gerade an, und auch ich war mit einem Dutzend veröffentlichter Artikel und Rezensionen aus dem College gekommen. Wir mieteten einen engen Schlauch von Wohnung in Chelsea, durchlitten einen New Yorker Sommer, und dann erhielt Sonias ältester Bruder, Patrice, ein Bauingenieur, den Auftrag, irgendwo in Afrika einen Damm zu bauen, und bot uns mietfrei seine Pariser Wohnung an. Wir zögerten keine Sekunde. Kaum war das Telegramm eingetroffen, packten wir unsere Sachen.
Immobilien interessieren mich nicht, und eure berufliche Laufbahn kenne ich bereits. Ich möchte, dass du mir von den wichtigen Dingen erzählst. Wie war sie? Was war es für ein Gefühl, mit ihr verheiratet zu sein? Wie seid ihr miteinander ausgekommen? Habt ihr euch jemals gestritten? Das Wesentliche, Grandpa, nicht bloß ein paar oberflächliche Fakten.
Also gut, dann lass mich kurz nachdenken, bevor ich einen anderen Gang einlege. Wie war Sonia? Habe ich, nachdem wir geheiratet hatten, etwas an ihr entdeckt, was ich vorher noch nicht kannte? Widersprüche. Etwas Hintergründiges, Komplexes. Dunkle Stellen, die sich im Lauf der Zeit offenbarten und mich sie schließlich ganz neu sehen ließen. Ich habe sie sehr geliebt, Katya, das darfst du nie vergessen, und ich kritisiere sie nicht für das, was sie war. Es ist nur so, dass mir, je besser ich sie kennenlernte, nach und nach bewusst wurde, wie viel Leid sie mit sich herumtrug. Deine Großmutter war in fast jeder Hinsicht ein ungewöhnlicher Mensch. Zartfühlend, freundlich, treu, nachsichtig, geistreich und außerordentlich begabt für die Liebe. Aber gelegentlich wirkte sie wie weggetreten – manchmal, mitten in einem Gespräch, starrte sie mit verträumter Miene ins Leere und schien mich gar nicht mehr zu kennen. Anfangs nahm ich an, sie denke über irgendetwas nach oder erinnere sich an früher, aber als ich sie schließlich einmal fragte, was ihr in solchen Augenblicken durch den Kopf gehe, lächelte sie nur und sagte: Nichts. Es war, als sei ihr ganzes Wesen ausgeleert, als risse der Zusammenhang zwischen ihr und der Welt. Anderen Menschen konnte sie instinktiv und ohne Mühe bis ins Innerste schauen, so tief in sie hineinsehen, dass es fast unheimlich war, aber zu sich selbst hatte sie ein merkwürdig seichtes Verhältnis. Sie war klug, das schon, aber im Grunde ungebildet und konnte sich auf nichts lange konzentrieren. Ausgenommen ihre Musik, die ihr das Wichtigste im Leben war. Sie glaubte an ihr Talent, kannte aber auch ihre Grenzen und weigerte sich, Stücke in Angriff zu nehmen, von denen sie glaubte, sie
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