Mann im Dunkel
sie, und im selben Augenblick habe sie begriffen, dass alles mit allem verbunden war, jeder Mensch auf der Welt mit jedem anderen Menschen, und die bindende Kraft, die das alles zusammenhielt, war Gott. Ein anderer Name sei ihr dafür nicht eingefallen. Gott. Kein jüdischer oder christlicher Gott, nicht der Gott irgendeiner Religion, sondern Gott als eine allgegenwärtige Kraft, die alles Leben beseelt. Von da an habe sie mit ihm geredet, sagte sie, in der Gewissheit, dass er sie hören könne, und diese Monologe, diese Anrufungen, diese Gebete – wie auch immer man es nennen will – hätten ihr Trost gespendet, sie immer wieder ins Gleichgewicht gebracht. Das gehe nun schon seit Monaten so, aber sie habe es mir nicht erzählt, weil sie fürchtete, ich könnte sie für dumm halten. Ich sei so viel klüger als sie, ihr so weit überlegen, wenn es um intellektuelle Angelegenheiten gehe – ihre Worte, nicht meine –, und sie habe sich Sorgen gemacht, ich würde mein ahnungsloses Weibchen auslachen, wenn es erzählte, es habe zu Gott gefunden. Ich habe nicht gelacht. Ich bin ein Heide, aber gelacht habe ich nicht. Sonia hatte ihre eigene Art zu denken, und ihre eigene Art, die Dinge in die Hand zu nehmen, und wer war ich, mich über sie lustig zu machen?
Ich habe sie mein ganzes Leben lang gekannt, aber zu mir hat sie nie von Gott gesprochen, nicht ein einziges Mal.
Weil sie aufgehört hat zu glauben. Als unsere Ehe zerbrach, fühlte sie sich von Gott im Stich gelassen. Das ist lange her, mein Engel, lange bevor du geboren warst.
Die Arme.
Ja, die Arme.
Ich habe eine Theorie zu eurer Ehe. Mutter und ich haben darüber gesprochen, und wir scheinen einer Meinung zu sein, aber ich brauche eine Bestätigung, Informationen aus erster Hand. Was sagst du dazu: Du und Grandma habt euch ihres Berufs wegen scheiden lassen?
Meine Antwort lautet: Unsinn.
Na schön, nicht wegen ihres Berufes als solchem, sondern weil sie so viel reisen musste.
Ich würde sagen, es wird ein bisschen wärmer – aber nur als indirekte Ursache, als nebensächlicher Faktor.
Mutter sagt, sie habe es immer gehasst, wenn Grandma auf Tournee gegangen ist. Sie habe Heulkrämpfe bekommen, gebrüllt wie am Spieß und sie angefleht, bei ihr zu Hause zu bleiben. Hysterische Szenen … Höllenqualen … Trennung, immer wieder Trennung …
Das mag ein- oder zweimal passiert sein, aber das würde ich nicht so wichtig nehmen. Solange Miriam klein war, etwa bis zu ihrem sechsten Lebensjahr, ist Sonia nie länger als eine Woche fort gewesen. Und dann hat meine Mutter bei uns gewohnt und sich um die Kleine gekümmert, das lief eigentlich immer ganz gut. Deine Urgroßmutter hatte ein Händchen für kleine Kinder, sie liebte Miriam – ihre einzige Enkelin – über alles, und auch Miriam konnte es immer kaum erwarten, dass sie zu uns käme. Jetzt fällt mir alles wieder ein … die komischen Sachen, die deine Mutter angestellt hat. Mit drei, vier Jahren war sie von den Brüsten ihrer Großmutter fasziniert. Die waren ziemlich groß, muss ich sagen, da meine Mutter in jener Zeit stark zugenommen hatte. Sonia hingegen war eher spärlich ausgestattet, sie hatte Brüste wie ein Teenager, die nur in der Zeit, als sie Miriam stillte, etwas größer wurden und nach der Entwöhnung gar noch kleiner als zuvor. Der Kontrast war also enorm, und selbst die kleine Miriam hatte das bemerkt. Die Brüste meiner Mutter waren gewaltig, zwanzigmal größer als Sonias. Eines Samstagmorgens saßen sie und Miriam auf dem Sofa und sahen sich Zeichentrickfilme an. Irgendwann zwischendurch kam eine Pizzareklame, die mit den Worten endete: Das ist eine Pizza! Prompt drehte sich deine Mutter zu meiner Mutter um, presste den Mund auf ihre rechte Brust und rief dann: Ja, das ist eine Pizza! Das brachte meine Mutter so sehr zum Lachen, dass sie einen Furz ausstieß, einen dröhnenden Trompetenfurz. Darüber wiederum musste Miriam so heftig lachen, dass sie sich in die Hose machte. Sie sprang vom Sofa, lief im Zimmer herum und schrie aus vollem Hals: Furz-Pipi, Furz-Pipi, oui, oui, oui!
Das denkst du dir jetzt aus.
Nein, das ist wirklich geschehen, ich schwöre. Und ich erwähne das nur aus einem einzigen Grund: weil ich dir begreiflich machen will, dass nicht nur Trübsal bei uns herrschte, wenn Sonia unterwegs war. Miriam hat nicht wie Oliver Twist den Kopf hängenlassen und sich vernachlässigt gefühlt. Die meiste Zeit ging es ihr gut.
Und wie war das für dich?
Ich habe
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