Mann Ohne Makel
Gott ihm, das Schwert sieben Jahre zu behalten. So lange starb kein Mensch. Aber nach sieben Jahren erhörte Gott das Flehen des Todesengels, und der Tod kehrte zurück. Als Erster starb Josua, aber er spürte keinen Schmerz. Der Todesengel zog ihm die Seele aus dem Körper, wie man einen Faden aus der Milch zieht. Sanft schwebte der Rabbi in sein Gemach im Paradies.
Es war das Lieblingsmärchen des alten Manns, als er ein Kind war. Der Tod konnte schön sein. Ihn würde er befreien. Das Leben war ihm ein Ballast, es zog an seiner Seele mit Tonnengewicht.
Würde er weiter Glück haben? Er erinnerte sich an die Frau. Ihr Schrei, als er hinter dem Busch hervortrat. Sie stand wie erstarrt und wehrte sich nicht. Er schlug ihr mit einem Knüppel auf den Kopf, immer fester, steigerte sich in einen Rausch. Erschöpft hörte er auf, ihr Kopf war ein unförmiger Klumpen, überzogen mit Blut und Hirnmasse.
***
Stachelmann hatte kaum geschlafen in dieser Nacht. Und wenn, dann träumte er von Toten. Er war verstört, als er aufwachte. Der Rücken schmerzte, er war steif, die Tabletten hielten nicht lange vor. Er mühte sich aus dem Bett, die Augen brannten. Er schmierte sich zwei Marmeladenbrote und trank einen Becher Instantkaffee. Dabei schaute er in die Lübecker Nachrichten. Auf der Seite Weltspiegel/Wetter entdeckte er eine Notiz über den Mord an Valentina Holler. Hamburg war keine Bahnstunde entfernt, schon sank das Interesse an diesem Verbrechen. Stachelmann stand im Bademantel am Fenster und schaute auf den Hinterhof. Es regnete, schwere Wolken am Himmel. Dann fiel es ihm ein, heute Abend erwartete ihn, was er sich seit langem erhofft hatte, das Treffen mit Anne. Sein Magen zog sich zusammen. Das tat er immer, wenn Stachelmann sich aufregte. Manchmal bekam er dann Durchfall. Hoffentlich nicht im Zug, dachte er. Er ekelte sich vor den Bahnklos.
Er überstand die Zugfahrt besser als befürchtet. Als er den Berg der Schande sah, verschlechterte sich seine Laune für kurze Zeit. Dann gewann die Vorfreude die Oberhand, bis Angst sie verdrängte, er würde wieder alles falsch machen. Er nahm sich den Stapel Fachzeitschriften, die er längst hätte lesen müssen. Er mochte sie nicht, hielt sie für ein Potpourri der Eitelkeit. In den gelehrten Debatten zeigte sich eher der Drang zur Selbstdarstellung als das Bemühen um Klärung. Heutzutage war die Wissenschaft Adams Dschungel, richtete er sich mächtig auf und schlug sich mit seinen Fäusten gegen den Brustkorb, damit der Urwald hörte, wer ein Alphatier war oder eines werden wollte. So trommelte es durch die Fachpresse. Wer ein Silberrücken werden wollte, musste fleißig dienern, viel schreiben und die Majestäten ausführlich zitieren. Stachelmann lachte trocken. So viel hat sich doch nicht geändert, seit die Menschen aufrecht gehen.
Er entdeckte einen Aufsatz über das Konzentrationslager Mittelbau-Dora, die Produktionsstätte der V-2-Raketen. Der Artikel war anders. Sachlich schilderte er die Leiden der Häftlinge und die rüstungstechnische Bedeutung des Lagers bei Nordhausen. Nein, nicht alle waren Möchtegernalphatiere. Dora war am Anfang ein Außenlager des KZ Buchenwald gewesen. Ein Lichtstrahl drang durchs Fenster ein, der Regen hatte aufgehört. Er legte einen Zettel in die Zeitschrift, nachher würde er den Artikel kopieren und ihn auf den Berg der Schande legen.
Er verzichtete auf den Gang in die Mensa. Einen Augenblick überkam ihn die Furcht, Anne könnte ihn dort ansprechen und das Treffen absagen. Er lief zum Harvestehuder Weg, ans Ufer der Außenalster, wo die Enten fast alle Scheu vor den Menschen verloren hatten.
Warum hatte Anne ihn eingeladen? Er schalt sich, sie nicht gefragt zu haben. Nun würde er die Ungewissheit noch lange Stunden ertragen müssen. Was konnte sie von einem Versager wollen? Die Angst erfasste ihn. Jedes Mal, wenn er Bohming am Historischen Seminar sah, fürchtete Stachelmann, dass der Sagenhafte ihn in sein Sprechzimmer bitten und ihn fragen würde, wann er denn seine Habilitation beenden wolle. Natürlich würde Bohming das in freundlichen Worten tun. Er würde von der großen Hoffnung sprechen, die er in ihn setze, vielleicht wiederholen, was er gesagt hatte, als Stachelmann nach Hamburg kam: »Sie haben hier alle Chancen, Stachelmann, ich bin nicht mehr der Jüngste.« Er hatte angedeutet, wie sich das Menetekel der Hausberufung umgehen ließe. »Wissen Sie, ich habe da ein paar Freunde in Köln. Was meinen Sie, zwei,
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