Mann Ohne Makel
wäre der Tod wie ein Gespenst über das Mädchen gekommen und wäre einfach wieder verschwunden.«
Eine Wandlung war in Ossi vorgegangen. Stachelmann wunderte sich über die gestelzten Sätze. Vielleicht verarbeitet er so den Schrecken, dachte Stachelmann. Dann fiel ihm das Bild ein, das er am Morgen in der Bahn gesehen hatte. Ein Mädchen mit Zöpfen. »Ist es die Geschichte mit dem Makler?«, fragte Stachelmann.
Ossi nickte. »Ja, woher weißt du das?« Seine Hand zuckte kurz. »Ach so, die Zeitungen.«
Die Schwarze erschien: »Ja, bitte?«
»Valentina Holler, komischer Name«, sagte Ossi.
Die Schwarze zischte etwas, schüttelte ihren Pferdeschwanz und verschwand.
»Und ein komischer Fall«, fügte Ossi hinzu. Er strich mit Daumen und Zeigefinger an seinem Bierglas hinauf und hinunter. Sein Blick war leer. »Sie hatte gespielt«, sagte er. »Einfach nur gespielt. Sie spielte mit einer Puppe, schob sie im Puppenkinderwagen im Garten umher.« Er blickte auf vom Tisch, sah die Schwarze und winkte. Sie kam und sah ihn unfreundlich an. Ossi bestellte noch ein Bier und ein weiteres, nachdem er zu Stachelmann hinübergeschaut hatte. Dann sagte er: »Ich muss mal austreten«, stand auf und suchte den Weg zur Toilette.
Stachelmann war erstaunt, wie krass Ossis Stimmung umgeschlagen war. Klar, ein Kindesmord nahm einen mit. Viele Morde hatten handfeste Gründe, manche waren gut genug, um vor Gericht mildernde Umstände zu erwirken. Kindesmord war immer unverständlich. Da gab es keine Eifersucht, keinen Neid, keine Konkurrenz, keine Rache und was man sonst als Grund dafür anführen mochte, einen Menschen zu töten.
Ossi kam wieder. Stachelmann entdeckte einen Fleck an seinem Hosenbein.
Die Schwarze erschien und stellte zwei Bier auf den Tisch.
Der Spielautomat dödelte.
Ossi nahm einen Schluck aus seinem Glas. »Valentina schob ihren Puppenwagen durch die Gegend, dann fiel sie um. Sie war sofort tot. Vergiftet, Zyankali.«
Stachelmann staunte. Davon hatte nichts in der Zeitung gestanden. »Zyankali?«
»Ja, da hat jemand eine Sechsjährige mit Blausäure vergiftet.«
»Und wie?«
»Auf dem Grundstück hat irgendwo ein Bonbon gelegen. Ein Karamellbonbon, gefüllt mit Zyankali. Das jedenfalls hat mir der Pathologe gesagt. Den Obduktionsbericht gibt’s erst morgen. Das Bonbonpapier haben wir gefunden. Es lag neben der Leiche. Valentina hat ein Bonbon entdeckt, in blauem Papier, hat es ausgepackt und offenbar gleich in den Mund gesteckt. Ein paar Mal lutschen, und sie war tot. Genau das hat sich der Täter gewünscht.«
»Unfassbar«, sagte Stachelmann. »Einen Erwachsenen bringt man nicht mit einem Bonbon um.«
»Aber wer füllt ein Bonbon mit Zyankali und wirft es in den Garten einer Villa, damit ein Kind es findet und daran stirbt? Ich kapiere es nicht.«
Sie saßen eine Weile schweigend am Tisch. Stachelmann ließ seine Augen durch die Kneipe schweifen. Sie hatte sich mittlerweile gefüllt. Die Schwarze war gut beschäftigt, erledigte ihren Job mit Ruhe und Übersicht. Wenn sie heute Nacht fertig war, hatte sie ein paar Zentner geschleppt.
»Und das ist nun der dritte Mord im Haus Holler. Würde mich nicht wundern, wenn irgendwann zwei weitere passierten.«
»Wird der Mann erpresst?« Stachelmann wunderte sich über sein Interesse an diesem Fall. Er spürte, es lag nicht nur daran, dass Ossi befasst war mit der Sache. Was war es, was ihn ansprach? Holler, wer war Holler?
Ossi brauchte einige Sekunden für seine Antwort: »Nein, zumindest sieht es nicht nach Erpressung aus. Wir sind uns nicht einmal sicher, dass es sich um einen Serienmord handelt.«
»Reichen drei Tote in einer Familie nicht aus?«
Ossi zündete sich eine Zigarette an, zog kräftig und sagte ruhig, mit mutloser Stimme: »Bei einem Serienmord gibt es einen Täter oder eine Tätergruppe. Hollers Frau wurde erschlagen, der Sohn vergiftet und die Tochter auch. Dem Sohn hat jemand Zyankali in die Cola geschüttet. Zwei Giftmorde, der erste Fall passt nicht dazu. Erschlagen. Erschlagen ist was anderes.«
»Aber drei Tote binnen weniger Jahre in einer Familie?«
»Du hast Recht. Nur, keiner kennt ein Motiv. Holler ist ein ehrenwerter Geschäftsmann. Wir haben sein Umfeld geradezu durchwühlt. Er kommt einem manchmal vor wie ein Heiliger. Ist in allen möglichen Wohltätigkeitsvereinen, ohne es an die große Glocke zu hängen. Er hat zum Beispiel eine halbe Million gespendet für Tschernobylopfer. Als wir das herausgefunden hatten,
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