Mann Ohne Makel
sind.« Stachelmann hoffte, Kohn sah ihm die Lüge nicht an. Er war ein wenig stolz auf sich, dass er sie so schnell befreit hatte aus der peinlichen Lage.
»Aha«, sagte Kohn. »Kommen Sie nicht ein bisschen spät mit Ihrem Projekt? Die meisten, die überlebt haben, sind tot.«
»Da haben Sie Recht, leider ist es vor uns niemandem eingefallen, sich darum zu kümmern.«
Kohn schaute ihn neugierig an.
»Wo waren Sie zurzeit der NS-Diktatur?«, fragte Anne.
»Kindertransport«, sagte Kohn. »Vielleicht haben Sie schon davon gehört.«
»Ja«, sagte Stachelmann. »Kurz vor dem Krieg wurden ein paar tausend Kinder nach England gebracht. Die Eltern aber wollten die Engländer nicht haben.«
»Kinder sind ja so süß«, sagte Kohn.
»Und wann kamen Sie zurück?«
»Spät, erst 1951.«
»Das ist in der Tat spät«, sagte Anne.
»Niemand aus meiner Familie hat überlebt, fast wäre ich ganz in England geblieben. Ich war vorher einmal in Hamburg gewesen, siebenundvierzig oder achtundvierzig, bin dann aber zurück.«
»Weil Sie niemanden aus Ihrer Familie gefunden haben«, sagte Anne.
»Es hat mich gequält, in Hamburg zu sein. Alles tot, die Stadt zerstört, und die Nazis fast schon wieder obenauf.«
Er wurde lauter. »Die Polizisten, die meine Leute zu den Zügen in den Osten gebracht haben, saßen in den Revieren. Die Finanzbeamten, die uns ausgeplündert hatten, erhoben weiter Steuern. Die Blockwarte, die die Leute bespitzelt haben, waren stinknormale Bürger. Die Staatsanwälte und Richter, die unsereinen wegen Rassenschande in die Zuchthäuser schickten, wenn uns ein braver Arier verpfiffen hat, die waren nun die Hüter des Rechtsstaats. Die Universitätsprofessoren, die die Überlegenheit der nordischen Rasse bewiesen, hielten Vorlesungen. Und die Aasgeier, die unsere Not ausnutzten, die uns unser Eigentum für ein Taschengeld oder gar nichts abnahmen, verwandelten sich in die Kapitäne des Wirtschaftswunders.« Er hatte am Ende fast geschrieen. Kohn hielt inne, sah sich erschreckt um. »Entschuldigung«, sagte er. »Ich spreche zum ersten Mal seit vielen Jahren darüber. Ich hatte nicht gewusst …«
Stachelmann war zuerst zurückgewichen, dann spürte er, wie in ihm die Sympathie für diesen Mann wuchs.
»Sehen Sie, wir waren nicht reich, aber ich hätte studieren können, dafür hätte es gelangt.«
Schweigen.
»Aber es gab doch Wiedergutmachungskammern?«, sagte Anne.
»Man musste seine Ansprüche bei den Finanzämtern anmelden, also bei denen, die einen vorher ausgenommen hatten. Und wenn die nicht wollten, es kam oft vor, dann konnte man sein Recht einklagen. Aber man musste seine Ansprüche beweisen. Ich konnte das nicht, jedenfalls nicht in den Augen des Gerichts. Ich hatte keine Unterlagen, sie waren verbrannt. Sie wissen, der große Bombenangriff 1943? Das Grundbuchamt, in dem meine Beweise aufbewahrt wurden, brannte ab. Und das Finanzamt sagte, das Gleiche sei mit den Steuerunterlagen und den Protokollen des Vollstreckungsbeamten passiert. Mag sein oder auch nicht. Und finden Sie mal jüdische Zeugen. Alles Rauch. Dem Richter tat es Leid. ›Wir müssen uns hier nun mal nach dem Gesetz richten‹, sagte er. Ich höre es heute noch.«
»Wem gehört heute, was Ihre Eltern besaßen?«, fragte Anne.
Kohn betrachtete lange den Fußboden. Er blickte kurz auf, ganz kurz nur, aber Stachelmann genügte es, um die Wut zu entdecken, die in diesem Mann arbeitete. Nie hatte er einen solchen Blick gesehen, Verzweiflung paarte sich mit Hass. Wenn Stachelmann später hörte, die Wut habe eines Menschen Gesicht verzerrt, dann musste er immer an diesen Augenblick denken, an Leopold Kohn, der in seiner Küche kämpfte mit seiner Wut. Mit gequetschter Stimme sagte Kohn: »Ich weiß es nicht. Und es hat ja mit Ihrem Forschungsprojekt nichts zu tun.« Es klang, als hätte Kohn ein Schreien unterdrückt.
Anne hatte offenbar nichts mitbekommen. Sie hatte mit einer Auskunft gerechnet und war verwirrt, weil sie keine erhielt.
Während sie schwiegen, schaute Stachelmann sich in der Küche um. Auf dem Boden, neben dem Mülleimer, lag eine Schachtel mit der Abbildung eines hochrädrigen Jeeps, eines dieser überdimensionierten funkgesteuerten Modellautos. Neben dem Herd mit vier Stahlkochplatten lagen Werkzeuge und eine Fernbedienung mit halb eingezogener Teleskopantenne.
»Für Ihren Enkel?«, fragte Stachelmann, froh, ablenken zu können.
Kohn schaute ihn an, er war erschrocken. »Ja, ja«, sagte er.
»Wie
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