Mann Ohne Makel
halten.«
»Sind Sie Herr Goldblum?«, fragte Stachelmann.
»Wer will das wissen? Und warum?«
»Wir kommen von der Universität, sind Historiker, suchen Überlebende des Holocaust.« Stachelmann hasste diesen Begriff.
Der Alte lächelte. Ein Schneidezahn fehlte. »Ich habe keinem erzählt, wie ich davongekommen bin. Ich werde es auch keinem erzählen. Vielleicht klappt es ja noch mal.« Er lachte, es war, als röchelte er.
»Wir wollen möglichst alle Hamburger Juden finden, die überlebt haben«, sagte Stachelmann.
»Da brauchen Sie ja nicht lange zu suchen.«
»Kennen Sie noch welche?«, fragte Anne.
»Warum gehen Sie nicht zur jüdischen Gemeinde?«
»Die haben uns zu Ihnen geschickt«, sagte Stachelmann. Er hoffte, Goldblum schluckte die Lüge.
»Das glaube ich nicht«, sagte Goldblum. Er warf Stachelmann einen spöttischen Blick zu. »Die werden nicht mal einen zu meinem Grab schicken.«
»Kennen Sie Leopold Kohn?«, fragte Anne.
»Vielleicht«, erwiderte Goldblum.
»Er hat auch überlebt«, sagte Stachelmann.
»Möglich«, sagte Goldblum.
»Wissen Sie, wo er wohnt?«, fragte Anne.
»Das steht im Telefonbuch.«
»Wenn Sie so mürrisch sind, will ich Sie nicht heiraten«, sagte Anne.
»Sie würden mich auch nicht heiraten, wenn ich lustig wäre.« Er richtete seinen Blick ins Nirgendwo.
Anne zuckte mit den Achseln. »Schade«, sagte sie und ging. Stachelmann folgte ihr.
»Glaubst du, der zieht durch die Gegend und bringt Kinder um.
Oder stößt dich auf Bahngleise?«, fragte Anne.
Stachelmann schüttelte den Kopf.
»Also schauen wir uns den Herrn Kohn mal an«, sagte Anne.
»Und wenn der auch nur ein sabbernder Greis ist?« Stachelmann war so optimistisch gewesen, umso tiefer war er gefallen. Was für ein Quatsch, in einem Altenheim einen Mörder zu suchen. Er stellte sich vor, wie Goldblum mit Giftkapseln durch die Gegend zieht, um zu morden. Lächerlich. Auch Kohn musste ein alter Mann sein. Er war als Kind nach England geschickt worden, wahrscheinlich 1939. Wenn er damals sechs Jahre alt gewesen sein sollte, dann war er heute um die siebzig. Ein massenmordender Greis. Ja, es war lächerlich. Aber was sollten sie tun? Sie mussten ihn suchen. An der Ecke stand eine Telefonzelle. Stachelmann betrat sie und schlug das Telefonbuch auf. Viele Seiten war zerfetzt. Unter K fand er den Eintrag Kohn L. Hansastraße 47c. Das musste er sein. Er überlegte einen Augenblick, ob er anrufen sollte. Es war besser, den Mann zu überraschen.
»Wir gehen gleich hin«, sagte Anne. »Das ist ja fast bei mir um die Ecke.«
Die Tür des Hauses war nicht abgeschlossen. Sie stiegen die Treppe hoch. Das Alter hatte die Eiche dunkel gebeizt, das Geländer war übersät mit schwarzen Flecken. An der Tür im zweiten Stock stand Kohn. Stachelmann klingelte. Anne hakte sich bei ihm ein. Er hörte die Schritte, langsam, fest. Durch das Milchglas erkannte er eine große Gestalt. Die Tür öffnete sich, ein kräftiger Mann mit weißem Haar schaute sie fragend an. Irgendwie erinnerte er Stachelmann an den Alten in Berlin, der ihn auf die Gleise gestoßen hatte. Aber das war ein anderer Mann gewesen.
»Die jüdische Gemeinde schickt uns, wir sind von der Universität und arbeiten an einem Forschungsprojekt. Wir wollen herausfinden, wie viele überlebende Juden es gibt in Hamburg, die auch schon in der NS-Zeit hier gelebt haben. Sie sind doch Herr Kohn?«
Kohn nickte.
»Ob wir Ihnen ein paar Fragen stellen dürfen?«
Kohn schaute sie eine Weile an aus klugen Augen, dann nickte er. Er sah nicht begeistert aus. Er trat zur Seite und bat sie mit einer Handbewegung hinein. »Und was sind das für Fragen?« Er hatte eine kräftige Stimme.
»Wir wollen wissen, wie Sie überlebt haben. Und wie es Ihnen nach 1945 ergangen ist. Ob Sie angefeindet wurden, ob Ihnen jemand geholfen hat.«
Der Mann hatte sie in seine Küche geführt. Sie war einfach eingerichtet, eine weiße Küchenzeile an einer Wand, an einer anderen ein Fenster, in der Mitte ein Tisch, an dem vier Stühle standen. Sie setzten sich an den Tisch.
Stachelmann fragte: »Herr Kohn, wie haben Sie diese Zeit erlebt?«
»Wollen Sie sich keine Notizen machen?«
»Nein, im Augenblick nicht. Wir beide« – er zeigte auf Anne – »werten das Gespräch dann gleich aus am Seminar. Und dann, hoffe ich, dürfen wir wiederkommen. Es gibt für unser Forschungsprojekt ein richtiges Formular. Das würden wir dann gemeinsam mit Ihnen ausfüllen, wenn Sie einverstanden
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