Manöver im Herbst
wehen.
»Wie gut, daß ich noch nicht ausgespannt habe«, sagte der Kutscher. »Nach dreißig Jahren Dienst kennt man ja den Herrn Baron …«
Leutnant Schütze grub die Nägel seiner Hände in das Holz der Tür. Schluchzen würgte ihm im Hals. Vor den Pferden her liefen knurrend drei wildernde Hunde. Als die Pferde schneller trabten, setzten sie sich an den Wegrand und starrten zu dem Gefährt hinüber. Ihre Augen glitzerten.
Solch ein Hund bin ich, dachte Heinrich Emanuel und schloß die Augen. Weit lehnte er sich zurück und schluckte nach Luft wie ein Ertrinkender. Ein streunender Hund … weiter nichts.
Was muß man tun, um ebenbürtig zu sein? Immer ebenbürtig. Wie muß man sein, um beachtet und geachtet zu werden?
Es war ein Gedanke voll Ehrgeiz und Haß, der in ihm geboren wurde.
Ein Gedanke, der sein ganzes ferneres Leben bestimmten sollte –
*
In einem schmalen Haus, dessen Fenster hinaus zur Oder gingen, wohnte der Steueroberinspektor Franz Schütze.
Er war ein stiller, mittelgroßer Mann mit einer Glatze, einem goldenen Kneifer auf der Nase, einem runden Gesicht – wie Heinrich Emanuel –, einem mäßigen Spitzbauch und der Liebe nach Briefmarken im Herzen. Er war der Typ des korrekten Beamten. Gottesfürchtig, Untertan seinen Vorgesetzten, heimlich kritisch gegenüber dem Kaiser und geheim ein wenig linkssozialistisch orientiert. Was niemand wissen durfte, denn ein Beamter hat die Meinung seiner Vorgesetzten zu haben. Und diese waren absolut monarchistisch. Sie waren ein fleischgewordenes Hurra.
Daß in dieser biederen Familie mit Heinrich Emanuel, dem ältesten Sohn, kein Beamter, sondern ein Offizier heranwuchs, war eine vaterländische Großtat in den Augen der heimlich neidischen Kollegen des Steueroberinspektors Schütze. Sehr zustatten kam ihm, daß seine Frau Sophie, geborene Sulzmann, die Tochter eines Breslauer Schlachtermeisters war. Ihre Mitgift und der zu erwartende Erbanteil am väterlichen Geschäft waren erheblich. Sie ermöglichten es Heinrich Emanuel erst, die finanziell sehr ungünstige Laufbahn eines preußischen Offiziers einzuschlagen. Bis zum Hauptmann – sagte Vater Franz Schütze einmal im Kreise des Familienrates, als Heinrich Emanuel als Fähnrich sein Portepee bekam – ist ein Offizier dem Schoß der unterstützenden Familie nicht entwachsen. Erst als Stabsoffizier wird er pekuniär gehfähig.
So stand hinter Heinrich Emanuel die ganze Familie Schütze-Sulzmann. Sie beobachtete seinen Lebensweg wie den Lauf eines gut gedrillten Rennpferdes, auf das man Wetten gesetzt hatte und nun darauf wartet, daß es die hineingesteckten Gelder auch rechtfertigt. Immerhin war es ein gesellschaftlich unerhörter Sprung nach oben, wenn aus dem Schoß einer Schlachterfamilie und eines kleineren Beamten ein Offizier entsproß, der es einmal – bei der Intelligenz Heinrich Emanuels schien dies klar – bis zum Obersten bringen würde. Darüber hinaus ging es nicht … Generale waren adelig. Ein bürgerlicher General in der kaiserlichen Armee schien wie ein Eier ausbrütender Osterhase zu sein.
Als die Depesche in Breslau einlief:
Leutnantspatent erhalten stop Fahre erst nach Trottowitz, um mich zu verloben stop
Heinrich Emanuel
begann Sophie Schütze still zu weinen, während der nüchtern und beamtenmäßig real denkende Franz Schütze seinen Schwiegervater Schlachtermeister Sulzmann und seinen Schwager Eberhard Sulzmann, Wurst- und Aufschnittfabrikation, aufsuchte.
»Heinrich ist Leutnant geworden«, sagte er. »Er hat es vor einer Stunde depeschiert.«
»Darauf trinken wir einen«, antwortete Schlachter Sulzmann und griff nach einem Kümmelschnaps. »Ich wußte es, im Heinrich steckt fritzischer Geist. Daß meine Sophie solch einen strammen Jungen zur Welt brachte … das lasse ich mir etwas kosten.«
»Vergiß meinen immerhin nicht bescheidenen Beitrag zu dieser Geburt«, sagte Franz Schütze. Er nahm das Telegramm aus der Tasche und legte es mit der unbeschriebenen Seite nach oben auf den Tisch. Sulzmann holte Gläser und den Kümmel. »Was heißt das übrigens: Ich lasse mir das etwas kosten? Was willst du damit sagen?«
»Das soll heißen: Opa Sulzmann trägt die neuen Uniformen: Dienstanzug, Ausgehanzug, Festuniform. Ich trage zwei Kasinoabende im Monat und – wenn's sein muß – auch einen Gaul. Ist das nichts?«
»Es wäre alles herrlich, Schwiegervater, wenn …«, Steueroberinspektor Schütze wischte sich ein paar Schweißperlen von den Augen.
»Wenn –
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