Manöver im Herbst
weinen immer, im Glück und im Leid. Sie betten ihre Kinder in Tränen, als seien sie eine Schutzhülle.
»Heinrich!« rief sie. Sie wollte ihm um den Hals fallen, aber Leutnant Schütze wehrte ab. Er stand noch in der Tür, als zögere er, die elterliche Wohnung zu betreten.
»Unten steht noch jemand«, sagte er stockend. »Darf ich ihn heraufholen?«
»Oh! Du hast schon einen Burschen?« Vater Schütze blickte stolz auf seine Frau. »Ein Offizier hat immer einen Burschen, Mutter«, belehrte er sie. Und zu Heinrich Emanuel: »Geh –, hol deinen Putzer herauf. Er kann in der Kammer schlafen.«
»Es … es ist meine Braut …, Vater …«
»Deine … Das Fräulein von …« Steueroberinspektor Schütze griff an seine Krawatte. Sie saß gut. Aber der Kragen war von gestern. Das war peinlich. Sophie Schütze band schnell ihre Schürze ab. Mit ihr trocknete sie sich die Augen und sah über Heinrichs Schulter hinunter ins Treppenhaus.
»Aber so hol sie doch«, sagte sie leise. »Du kannst doch das Fräulein nicht im Treppenhaus warten lassen. Was hast du für Manieren, Heinrich.«
»Ich gehe sofort, Mama.«
Während er die Treppen hinuntersprang, sahen sich Franz und Sophie Schütze an. In ihren Augen stand alles, was sie dachten. Zweifel und Unsicherheit hielten sich die Waage.
»Sie ist mitgekommen«, sagte Franz Schütze leise. »Hätten wir die Sessel doch bloß vorigen Monat neu beziehen lassen, wie ich wollte.«
»Wer konnte das wissen, Franz?« Sophie Schütze zerknüllte ihre Schürze. »Ich lege schnell über die Lehnen ein paar Deckchen.«
»Tu das, Mutter. Da kommen sie schon …«
Frau Schütze rannte zurück ins Zimmer. Man hörte Schubladen schleifen und eilige Schritte über knirschenden Dielen.
Es ist für einen Vater nicht so einfach, einer plötzlich auftauchenden Schwiegertochter, zumal, wenn sie hübsch wie Amelia war, unbefangen gegenüberzutreten. Auch Franz Schütze fühlte diese Hemmungen ärgerlich in sich aufsteigen, als er Amelia gegenüberstand und diese ihn mit einem artigen Knicks begrüßte. Er lächelte – wie er glaubte, reichlich dumm – auf ihre braunen Locken herab und drückte zaghaft ihre kleine Hand.
»Seien Sie uns willkommen«, sagte er etwas heiser. Daß er plötzlich Rührung empfand, war noch schlimmer. Die Frau meines Jungen, dachte er. Die zukünftige Mutter meiner Enkel. Wie schnell doch das Leben dahinfliegt. Es ist gar nicht so lange her, da trug Heinrich Emanuel noch kurze Hosen und eine Schülermütze. Und plötzlich ist er erwachsen und bringt eine Frau mit. Dann mußte er daran denken, daß Sulzmann in absehbarer Zeit Urgroßvater werden würde. Dieser etwas gehässige Gedanke, ihn mit Urväterchen begrüßen zu können, machte ihn freier.
In der Wohnstube hatte Sophie Schütze aufgeräumt, Deckchen über die schadhaften Polster gebreitet und den Nippes zurechtgerückt. So eine vornehme Schwiegertochter sieht ja sofort, ob ein Haushalt gepflegt ist.
»Kommt 'rein«, sagte in der Diele Franz Schütze. Er nahm Amelia die Reisetasche ab und trug sie ins Schlafzimmer, während sie vor dem Flurspiegel stand, den Hut abnahm und die braunen Locken ordnete. Sophie Schütze kam aus dem Wohnzimmer. »Ich freue mich so«, rief sie, und dann weinte sie wieder, weil sie sich freute, weil sie ihren Jungen so glücklich sah, weil alles so maßlos schön war, weil …
Es wurde ein schöner Abend. Steueroberinspektor Schütze holte zwei Flaschen Wein, die er für die Leutnantsfeier extra eingekauft und verborgen hatte, Mutter Schütze briet Schnitzel und kochte Schnippelbohnen dazu, und Heinrich Emanuel erzählte vom Manöver, vom Sieg der Kaisertruppen und dem wehrhaften, unbesiegbaren Eindruck, den die deutschen Truppen bei den ausländischen Manöverbeobachtern hinterließen. Davon, daß er nach dem ersten Angriff für tot erklärt wurde, schwieg er. Auch davon, daß er die große Kaiserparade nach dem Manöver nicht mitmachen durfte, sondern als Wachhabender im Dorf Wache schob, sprach er nicht. Er verschwieg auch die peinliche Untersuchung beim Regimentsarzt, der ihn wie einen Schwachsinnigen fragte: Wieviel ist neun und sechs? Kennen Sie Sansibar? Wo liegt der Caprivi-Zipfel? Wie lange dauerte der 30jährige Krieg? Schreibt man Hämorrhoiden mit oi oder nur mit i? – Er wurde nach zwei Stunden Intelligenztest als voll verantwortlich entlassen und auf dem Flur bereits von Oberst v. Fehrenberg als ›Gemeiner Sozi in Uniform‹ zusammengebrüllt.
Das alles
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