Manöver im Herbst
noch für jedes Laden des Gewehrs fünf Minuten brauchte … mit Pulverhorn, Kugel, Kugelstößer und zu spannendem Hahn. Aber heute, bei den schnell feuernden Gewehren?
Fähnrich Schütze erhob sich und setzte seinen Helm wieder auf. Sein rundes Gesicht war irgendwie starr, trotzig und kampfbereit. So begegnete er Leutnant Petermann, der von einem Besuch zurückkam.
»Na, Sie Kaiserschreck?!« lachte Petermann und winkte. »Wenn die Manöverkritik kommt, stopfen Sie sich Watte in die Ohren. Ich möchte nicht erleben, was Ihnen bevorsteht.«
»Ich werde eine Denkschrift verfassen!« rief Schütze dem wegreitenden Leutnant nach. Seine Stimme überschlug sich vor Erregung. »Eine Denkschrift über moderne Kriegsführung.«
Das helle Lachen Petermanns flatterte zu ihm herüber. Er biß die Zähne aufeinander, rückte seinen Helm gerade und ging weiter, dem Waldrand zu, wo die 2. Kompanie als ›gesamt tot‹ im Schatten lag und am Morgen in Trottowitz gefaßte Butterbrote aß.
»Ich bin im Recht«, sagte Schütze vor sich hin. Bei jedem Schritt … zwanzig-, dreißigmal … »Ich bin im Recht.«
Hauptmann Stroy kam ihm vom Waldrand entgegen. Neben ihm gingen zwei Damen in langen, weißen Spitzenkleidern und mit riesigen garnierten Hüten auf den schmalen Köpfen. Um Heinrich Emanuels Augen flimmerte es, das Blut rauschte in seinen Schläfen. Er taumelte fast. Warum muß Amelia gerade jetzt hier sein, dachte er und kam sich hundserbärmlich vor. Und ihre Mutter auch. »Sie sind tot!« hatte ihn Oberst v. Fehrenburg angebrüllt. Das hatte er abgeschüttelt wie Wasser vom Wachstuch. Aber was jetzt kommen mußte, war ein wirklicher Tod. Vor den Augen und Ohren Amelias würde sich Hauptmann Stroy nicht zurückhalten, seinen kleinen, lächerlichen Fähnrich in den Boden zu stampfen.
»Schütze! Kommen Sie mal her!« schrie Hauptmann Stroy mit seiner hellen Stimme. »Und ein bißchen flotter, wenn ich bitten darf …!«
Heinrich Emanuel nahm seinen Säbel in die Hand und rannte über das Schlachtfeld auf seinen Hauptmann zu. Sein Helm schwankte etwas, er stolperte sogar über eine verlorene Feldflasche, er sah von weitem aus wie ein hüpfender Frosch. Er wußte, wie lächerlich er jetzt wirkte, und er wußte, warum ihn Hauptmann Stroy so laufen ließ.
»Ich bin tot«, dachte Schütze während er keuchend rannte. »Ich bin wirklich tot … aber ich habe recht. Sind alle, die recht haben, immer in der Nähe des Todes …?«
*
Auf dem Feldherrnhügel beobachteten die kaiserlich-königlichen Gäste den Fortgang der großen Schlacht. Kaiserin Auguste Viktoria hatte sich selbst an ein Scherenfernrohr gestellt und ließ sich von Generaloberst v. Moltke die Lage und den unaufhaltsamen Siegeslauf der kaiserlichen Truppen erklären. Ab und zu sah sie zu Wilhelm II. hinüber, der König Friedrich August von Sachsen, dem österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und König Konstantin von Griechenland auf einer Karte, die zwei Leibkürassiere ausgebreitet hielten, die Bewegungen der Truppen zeigte und dazu taktische Erläuterungen gab. Vor allem das Eingreifen der neuen Fliegertruppe war eine militärische Sensation. Die ›scheenen Vöchel‹, wie König Friedrich August sie nannte, gingen im Tiefflug herunter mit vernichtendem Maschinengewehrfeuer und zermürbten die Moral der Truppen. Selbst die bisher gut versteckte und nur mit Direktbeschuß zu vernichtende schwere Artillerie wurde von ihnen attackiert und ausgeschaltet. Eine neue, schreckliche Waffe war geboren … und die Welt sah zu, wie unbesiegbar Deutschland geworden war.
In diesem Hochgefühl kriegerischer Kraft bemerkte der zur persönlichen Verfügung Seiner Majestät auf dem Feldherrnhügel stehende General v. Scholl die verhängnisvolle Entwicklung auf dem linken Flügel. Der Angriff der Königin-Augusta-Grenadiere stockte … die Wellen standen plötzlich … und vor diesen Wellen hüpften Gruppen der gegnerischen Infanterie durch das gewellte Gelände und beschossen ganz klar die siegenden kaiserlichen Verbände.
Über das Gesicht General v. Scholls lief ein schnelles, nervöses Zucken. Sein gepflegter Schnurrbart fing die Schweißtröpfchen auf, die plötzlich unter seinem Helm hervor über das dicke Gesicht liefen. Er schielte zu Kaiser Wilhelm II. hinüber und bemerkte mit Erschrecken, daß der Kaiser sein Scherenfernrohr gegen den linken Flügel drehte.
Es war zu spät, die Majestät abzulenken und auf die Mitte hinzuweisen, wo Ulanen eine herrliche
Weitere Kostenlose Bücher