Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
abfällig. Man braucht keine besondere Begabung, um deine Gedanken zu kennen, wenn du auf diese Weise zum Hotel rüber siehst .«
»Ich habe gerade gedacht, dass diese Sommernächte sehr klar sind«, behauptete Ryan. »Man kann die Wasse r fälle hören. Das war alles.«
Sie saßen eine Minute lang schweigend da und lausc h ten. Dann sagte Aldebaran: »Sieh dir das hier noch mal an. Die Hauptursachen für den alcyrischen Grenzkrieg. Ich bin nicht überzeugt, dass du es richtig verstanden hast.«
Ryan gähnte wieder. »Es ist schon spät …«
»Ryan.« Aldebaran schob seinen Stuhl zurück und brachte damit einen Bücherstapel zum Einsturz. »Du weißt, dass das hier wichtig ist. Dies sind die Haupturs a chen für den Krieg; gleichzeitig sind es die Haupturs a chen für das Scheitern von Luciens Regierung. Weißt du, was er heute getan hat? Er hat Kadetten an die Grenze beordert – Jungen in deinem Alter –, und er hat der A r mee befohlen, an einem Sonntag zu marschieren. Mona r chen haben ihr Land schon aus nichtigeren Gründen ve r loren. Also, sieh es dir noch mal an.«
Auf der anderen Seite des Sees schlug die Kirchtur m uhr zwölf. Ryan begann von vorne.
W enn ich träume oder aus der Dunkelheit in einen hellen Raum komme, denke ich manchmal für e i ne Sekunde, dass Stirling da ist. Sogar während ich das hier geschrieben habe – während ich noch einmal verloren war in den Tagen vor se i nem Tod und den Tagen, die direkt darauf folgten – fing ich an, mir einzubilden, dass er da wäre, irgendwo am. Rand meines Sichtfelds. Ich sprang jedes Mal auf und fing an, mit ihm zu sprechen. Und dann erinnerte ich mich. Er ist der Einzige, mit dem ich jetzt noch spreche, aber er antwortet nie. Aber manchmal bin ich mir da nicht so s i cher.
Ich lehne mich an die Brüstung und beobachte, wie sich die Kutschen über den Burgfelsen nach unten bew e gen. Die Hälfte der Gäste ist schon gegangen, trotzdem spielt die Musik leise weiter. Ich lausche ihr schweigend. Ich kann jeden Ort sehen, den ich dir in diesem Buch zu beschreiben versucht habe – da s u mzäunte Brachland, wo früher meine Schule war; die Zitadellstraße; den Friedhof. Ich habe versucht, mich an die Orte zu eri n nern, die mich früher gefangen gehalten haben, aber sie erschienen mir plötzlich wie Teile einer Geisterstadt. Kalitzstad ist tot. Als Stirlings Seele gegangen ist, wurde auch allem anderen das Leben ausgesaugt.
Als kleiner Junge habe ich geglaubt, dass meine Mu t ter und mein Vater zurückkehren würden. Ich habe ganz fest daran geglaubt. Wenn ich mich damals neben mein Bett kniete, um meine Gebete zu sprechen, fasste ich a n schließend immer an mein goldenes Taufarmband. Ich drehte es dreimal herum, flüsterte ein paar Worte und stellte mir vor, einen Zauber zu wirken, der sie zu uns zurückbringen würde. Aber die Zeit verging, und sie k a men nicht. Diese Art von Magie verflüchtigte sich schon vor Jahren – sobald ich begriffen hatte, dass sie niemals zurückkehren würden. Ich konnte es nicht beweisen. Ich wusste es einfach. Es gibt Dinge, die man tief im Herzen weiß, ohne dass man einen Beweis braucht.
Aber da war noch eine andere Magie, die ich immer als selbstverständlich betrachtet hatte. Vor Stirlings Tod gab es eine Art von Zauber, der hinter allem glitzerte und die Dinge lebendig machte. Vielleicht war es das Pote n zial dieser Dinge, an jedem nächsten Tag stets größer oder besser sein zu können. Aber Stirling kann niemals mehr sein als acht Jahre, acht Monate, eine Woche und zwei Tage, und deshalb ist auch alles andere auf der Welt zum Stillstand gekommen. Inzwischen weiß ich, dass es keine Magie gibt. Es hat sie nie gegeben. Jede Magie ist mit Stirlings Tod für immer verschwunden.
Ich werde fortfahren. Da sind noch viele andere Di n ge. Dies ist mein Geständnis an dich, und es ist noch nicht zu Ende. Aber ich kann noch nicht weiterlesen. Stattdessen stehe ich allein hier draußen und lasse das Buch aus meiner Hand gleiten. Der Wind fegt über die Brüstung und spielt mit den Blätter n d er Bäume unter mir. Ich werde fortfahren. Nach einer Weile werde ich das Buch aufheben und weiterlesen. Aber jetzt noch nicht.
I ch wachte draußen in den Bergen auf und hatte ve r gessen , warum ich dort war. Ich lag auf dem kalten Gras, hatte den Kopf auf einen Stein gebettet und den Mantel als Decke über mich gebreitet. Eine silberne Ta u schicht überzog ihn. Ich hatte von Aldebaran g e träumt. Ich stand
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