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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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Großmutter hatte das ohne mich ausgesucht. Stirling hätte es trotzdem gefallen.
    Plötzlich dachte ich, dass er gar nicht imstande wäre, die Worte ohne Hilfe zu lesen. Warum kam mir dieser Gedanke? Weil ich mir für einen ganz kurzen Moment vorgestellt hatte, wie Stirling nach unten sah und auf di e selbe Weise mit der I ns chrift auf seinem eigenen Gra b kreuz kämpfte, wie damals, als er Aldebarans Namen buchstabiert hatte. Weil es sich so anfühlte, als könnte er mich sehen, wenn ich hier neben seinem Grab stand. »Kannst du mich hören, Stirling?«, fragte ich, wenn auch nur in meinem Kopf. »Kannst du mich sehen?« Es kam keine Antwort. Vielleicht konnte er es nicht.
    Ich fiel dort auf dem schattigen Grab zu Boden, sodass mein Kopf an dem Kreuz lag und die Beine bis auf den Pfad hinausreichten. Stirling war gut drei Köpfe kleiner gewesen als ich. So nah an meinem Gesicht rochen die Blumen widerwärtig und staubig. Ich lag dort, als ob ich tot und dies mein eigenes Grab wäre, und dachte an Sti r ling – so nah, dort unter der Erde. Ich wünschte, ich könnte sein Gesicht noch einmal sehen.
    Ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt zu weinen. Ich weinte nun um mich selbst, weil mir heiß und übel war, weil ich müde und der Weg nach Hause noch lang war, und weil ich niemals wieder glücklich sein könnte. Ich hatte es satt, unglücklich zu sein. Jedes Mal, wenn ich nun an Stirling dachte, war ich unglücklich. Wenn ich zuvor, als er am Leben war, an ihn gedacht hatte, war mir irgendeine lustige Sache, die er gesagt hatte, oder unser letztes Gespräch eingefallen, oder ich hatte mir überlegt, was er wohl im Moment tat. Nun war das Einzige, woran ich dachte, seine Krankheit und sein Tod. Und alles eri n nerte mich daran. Mein Leben schien sich endlos in e i nem dunklen, verschwommenen Nebel auszudehnen. »Hilf mir, Stirling«, sagte ich in Gedanken. »Hilf mir, Stirling. Ich kann nicht mehr.«
     
    Ich hatte wieder einen Traum. Sie wurden immer realer, immer eindringlicher. Mit Tränen in den Augen trug das Mädchen Wäsche in einen grauen Hinterhof. Ich konnte sie auf dieselbe Weise sehen, wie ich mir vorstelle, dass irgendwelche Geister von oben auf Malonia herabsehen. Der Junge kam über den Rasen auf sie zu, aber sie b e merkte ihn nicht.
    »Anna«, sagte Ryan. Sie erschrak und sah hoch. Er l ä chelte sie an. Über ihnen ballten sich Wolken am Hi m mel zusammen. Ein paar Regentropfen prasselten gegen die Laken auf der Wäscheleine. »Lass mich dir dabei helfen.«
    »Ich schaff das schon. Keine Sorge.«
    Da zersprengte ein lauter Donner den Himmel, und der Regen fiel polternd auf die Dächer der Autos und ließ die Bäume an den Hängen erschaudern. Ryan nahm die let z ten Wäschestücke ab und rannte hinter ihr her auf die Hoteltür zu.
    In der Küche legte er die Wäsche auf den Tisch, dann fuhr er sich lachend mit den Händen durch die nassen Haare.
    »Danke«, sagte Anna.
    »Ich sollte jetzt besser gehen. Wie ich sehe, hast du zu tun.« Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht werde ich dann warten, bis der Regen aufgehört hat.«
    »Soll ich uns Tee machen?«
    Er nickte. »Gern. Um die Wahrheit zu sagen, bin ich froh, hier gestrandet zu sein. Mein Onkel hat mich um sechs geweckt, um noch einmal einen Punkt in Geschic h te mit mir durchzugehen, von dem er glaubt, dass ich ihn gestern falsch verstanden hätte, und dementsprechend war er dann den ganzen Tag über gelaunt. Manchmal frage ich mich, ob er geistig ganz gesund ist.« Dann lac h te er nervös, so als ob er Angst hätte, dass Arthur Field ihn hören könnte. »Trotzdem muss ich mich in meinem Beruf an so etwas gewöhnen. Ich meine, in dem Beruf, den ich ergreifen werde.«
    »Und welcher wird das sein?«, fragte Anna, die gerade versuchte, den zerbrochenen Gasring mit Daniels Feue r zeug anzuzünden.
    Ryan schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig. Aber, Anna, verrat mir eins – ich wollte dich das schon fragen, als ich gestern herkam und am Tag davor …«
    »Als ich dich angesprochen habe?«
    »Nein, später. Ich habe dich tanzen gesehen und mich gefragt, wofür du da trainierst.«
    »Für ein Vortanzen an der Tanzakademie.« Sie sagte es, ohne sich umzudrehen.
    »Ist das dein Ernst?« Ryan hob die Brauen und läche l te leise. Sie stellte einen Wassertopf auf den Gasring. »Kein Wunder, dass du so gut bist!«
    »Ich bin nicht wirklich gut«, widersprach Anna. »Aber für irgendetwas muss man sich anstrengen. Jeder tut das.«
    »Du musst gut

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