Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
auf und streckte meine schmerze n den Arme aus. Dann fiel mir ein, was am Tag zuvor passiert war und dass Stirling nicht mehr lebte. Ich fiel wieder auf die Knie und verharrte dort, unfähig, mich zu bewegen. Ich denke, ich betete da r um, als jemand anderer aufwachen zu dürfen. Aber ich war bereits als Leo aufgewacht, und ganz gleich, wie la n ge ich dort kniete, das Entsetzen und die Übelkeit würden mich nicht mehr loslassen.
»Du kannst jetzt schneller gehen, nachdem du dich ausgeruht hast«, sagte Die Stimme. Etwas ließ mich ta u melnd auf die Füße kommen, den Mantel aufheben und wieder loslaufen.
Mir taten die Beine so weh, dass ich sie kaum anheben konnte, und in meinem Kopf spürte ich ein unerträgliches Pochen. Ich wusste nicht, woher diese Müdigkeit kam, aber sie war sehr real und machte es mir unmöglich, an etwas anderes zu denken als daran weiterzulaufen. Z u mindest diese kleine Gnade war mir vergönnt. Aber ich fragte mich, ob ich auf diese Art wohl mein restliches Leben verbringen würde – indem ich fieberhaft irgen d etwas anderes tat, um mich nicht daran zu erinnern, dass Stirling tot war, bevor dann dieses plötzliche Begreifen einsetzte, das schlimmer war, als wenn ich die ganze Zeit über daran gedacht hätte. Ich versuchte, Die Stimme dazu zu überreden, mir wie am Vortag eine Geschichte zu e r zählen, aber sie schwieg beharrlich.
Nachdem ich einige Stunden lang weitergegangen war, stolperte ich auf dem Gipfel eines Hügels, und taumelte wieder nach unten. Ich landete auf dem Rücken in einem überschatteten Tal. Erst nachdem ich eine Weile dalag, bemerkte ich, dass ich diesen Ort kannte – es war das Tal, von dem ich Stirling erzählt hatte. Das Tal, in das wir gehen würden, sobald er wieder gesund war. Ich schritt mitten in die weite Fläche aus Wildblumen. Sie verblühten bereits, und das brachte mich zum Weinen. Seit Stirling gestorben war, schien alles, was ich berüh r te, zu verwelken.
Als ich aufhörte zu weinen, lag das Tal im Schatten, und die Vögel zogen über den dunkler werdenden Hi m mel. Ich stand auf, humpelte hinunter zum Bach und wusch mir die Tränen vom Gesicht. »Geh in die Stadt zurück«, sagte Die Stimme. »Es ist noch ein paar Stu n den lang hell. Kehr nach Kalitzstad zurück, und alles wird in Ordnung sein.«
Vielleicht glaubte ich wirklich daran, dass alles wieder in Ordnung sein würde, wenn ich Kalitzstad erreichte. Auf jeden Fall lief ich weiter. Während ich vorwärtssto l perte, hatte ich immer wieder das Gefühl, gleich oh n mächtig zu werden, sodass ich mich alle paar Minuten hinsetzen musste, bis es abgeklungen war. Die Hügel um mich herum waren niedrig, aber sie wirkten wie die höchsten Berge. Ich schwitzte und fröstelte gleichzeitig. Es ging mir nicht gut. Aber ich würde es schaffen. Ich fing an zu glauben, dass der Grund für alles – meine M ü d igkeit und Schwäche, das schreckliche Gewicht, das auf mein Herz drückte, und sogar Stirlings Tod – der war, dass ich die Stadt noch nicht erreicht hatte. Sobald ich durch das Tor kam, würde alles in Ordnung sein. Ich fühlte nun gar nichts mehr – ich dachte nur noch an die Stadt und die Entfernung und Die Stimme.
Schließlich wurde die Hügellandschaft zu ebenem U n tergrund. Ich schritt an den überfluteten, gleich ausg e schlagenen Zähnen verstreuten Gräbern vorbei, wo die Ungeduldeten begraben waren. Ich überquerte die Krei s straße, schwankte kurz, stolperte weiter und erreichte schließlich den Eingang des Friedhofs. Dort standen So l daten Wache – dem äußeren Anschein nach Kadetten. Ihre Schatten wuchsen mir entgegen, sie fielen über Gr ä ber und Grund, ohne Unterschied. Es musste etwa sechs Uhr abends gewesen sein. Sie schrien mir etwas entg e gen, so als hielten sie sich für wichtige Männer, aber ich ignorierte sie und ging einfach an ihnen vorbei.
Ich war seit Stirlings Beerdigung nicht mehr auf dem Friedhof gewesen. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, was ich tun würde, wenn ich die Stadt erreichte. Nun fand ich mich auf der Suche nach seinem Grab wieder. Ich ging zwischen den Grabsteinen umher. In der Luft hing ein dichter, hellgelber Nebel; er irritierte meine A u gen. Ich fand das Grab. Die aufgetürmte Erde war inzw i schen eingesunken, sodass der Torf in der Mitte absackte. Auf dem Grab waren Blumen, und auf dem Holzkreuz stand nun unter Stirlings Namen eine Inschrift: »Sei g e treu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.«
Weitere Kostenlose Bücher