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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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ich plötzlich Großmutter, deren Silhouette sich gegen den Zaun abzeichnete. Ein paar der jüngeren Schüler beobachteten sie beunruhigt. Ich rannte hin und berührte sie am Arm. »Harold?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, sie wegzuziehen. Sie redete mit dränge n der Stimme auf mich ein, aber ich konnte sie nicht ve r stehen.
    »North!«, rief dann jemand, und ich erkannte, dass es Seth Blackwood war, der über den Hof auf mich zug e rannt kam. Ich versuchte weiter, Großmutter wegzuzi e hen. »Warum warst du nicht in der Schule? Wir haben uns schon alle gewundert. Es ist doch nichts mit deinem Bruder, oder?«
    Ich antwortete nicht. Seth erreichte den Zaun und sah mich durch ihn hindurch an. »Du solltest diese Dame heimbringen«, sagte er dann mit leiserer Stimme. »Die Lehrer sind im Moment ziemlich dünnhäutig wegen des Mordversuchs und der Kriegslage, weißt du.«
    Ich musste verdutzt ausgesehen haben, denn er fing an, mir davon zu erzählen – wie ein Verrückter versucht hatte, Lucien umzubringen, und dass anschließend mein Zug z u sammen mit all den anderen Kadetten zurück zur Sch u le geschickt worden war. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Aber plötzlich erinnerte ich mich daran, was in Ositha pa s siert war und was der Sergeant wegen der Gefängnisstr a fe gesagt hatte. Ich wollte keinem der Lehrer bege g nen.
    Ich löste Großmutters Finger vom Zaun und führte sie weg. Sie begann zu singen, während wir liefen. Ich b e deutete ihr, still zu sein. Sie sah mich nicht an. Dann fing sie an, vor sich hin zu murmeln, und dabei zuckten ihre Augen wie wild nach allen Seiten, so als ob Dämonen in ihr wären. Ich hätte beinahe gesprochen, aber ich schluckte die Worte hinunter, nahm sie an der Hand, und sie folgte mir.
    »Du solltest sprechen«, sagte Die Stimme. »Du solltest mit ihr sprechen.« Ich ignorierte sie. Dann hörte ich hi n ter mir jemanden rufen, vielleicht war es Seth Blac k wood, vielleicht aber auch einer der Lehrer. Ich fing an zu rennen und zerrte Großmutter dabei hinter mir her, obwohl sie kaum die Kraft hatte.
    Irgendwann auf dem Heimweg kam sie wieder zu sich und fragte mich, was passiert sei. Aber ich konnte nicht sprechen. Ich zog sie weiter hinter mir her.
     
    Als wir zu Hause ankamen, verriegelte ich die Tür. Dann nahm ich ein Stück Papier und erklärte es ihr. Ich schrieb ihr alles, sogar, dass sie mich Harold genannt hatte.
    »Ist das wahr?«, fragte sie, nachdem sie es gelesen hatte. Sie legte die Hand an die Stirn und sah mich ve r ängstigt an. »Ich habe keine Erinnerung … Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe. Nachdem du fort warst, habe ich mich auf den Weg zum Friedhof gemacht … Aber der Rest liegt völlig im Dunkeln.« Sie ließ sich mir gegenüber am Tisch auf einen Stuhl sinken. »Ich denke, ich hatte vielleicht die Vorstellung, dass Stirling wieder nachsitzen muss. Ich wollte ihn von der Schule abholen.« Dann begann sie zu weinen. »Leo, ich fürchte, dass ich den Verstand verliere.«
    Vielleicht ist es nur wegen Stirling, schrieb ich. Du bist doch noch nicht alt.
    »Ich bin fünfundsechzig, Leo. Das ist alt. Und was wird dann aus dir?«
    Was wird wann aus mir?
    »Wenn ich tot bin.«
    Du wirst nicht sterben. Du bist nur durcheinander.
    »Du hast vermutlich Recht.« Aber sie sah noch immer ängstlich aus. »Wenigstens ist so etwas noch nie zuvor passiert.« Ich sagte ihr nichts von unserer Begegnung auf dem Friedhof, nach meiner Rückkehr aus Ositha. Ich sah keinen Sinn darin. »Ich werde mit Pater Dunstan darüber sprechen, wenn er morgen kommt«, entschied sie und gab vor, nicht weiter daran zu denken.
    Pater Dunstan riet Großmutter, sich keine Sorgen zu machen. Ich glaube nicht, dass er ihr irgendetwas anderes hätte sage n k önnen. Ich behauptete damals, dass es kein Wahnsinn wäre, aber heute denke ich anders. Warum denn nicht? Ich verlor damals selbst gerade den Verstand. Das ist ganz leicht. Leichter, als weiterzuleben und dabei so zu tun, als wäre alles wie zuvor.
    Pater Dunstan bat mich noch mal, während der A n dacht zu sprechen. Ich stimmte widerwillig zu, eine der Lesungen zu übernehmen. »Danke, Leo«, sagte er. »Es würde Stirling viel bedeuten.« Ich wusste nicht, wie ich sprechen sollte, aber irgendwie würde ich es schaffen. Ich musste es schaffen.
    Der nächste Tag war schlimmer. Ich wachte schon vor dem Morgengrauen auf, und die Dunkelheit des Zi m mers, Stirlings leeres Bett und die Schatten in den Ecken

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