Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
werde es dir erklären. Es ist nur fair, dich einzuweihen.«
Sie wand die Finger in die Kette an ihrem Hals. Er b e obachtete, wie das Mondlicht auf ihr funkelte, und ru n zelte dabei die Stirn, als ob er an etwas anderes denken würde. Und dann veränderten sich seine Augen. »Was ist los?«, fragte sie.
»Ich habe sie mir noch nie richtig angesehen, deine Halskette. Ist das ein Vogel? Zeig mal.« Er griff nach dem Anhänger. »Und dieser Edelstein, hat der schon immer gefehlt?«
»Ja. Aber, Ryan …«
»Verrat mir, woher du sie hast.«
»Meine Großmutter hat sie mir gegeben, als ich ein Baby war.«
Sie drehte sich weg. Er fasste sie am Arm. »Das ist die Frau auf dem Foto, oder? Die, der du so ähnlich siehst. Und sie hat dir diese Halskette gegeben?«
Sie antwortete nicht.
»Bitte, Anna! Erzähl mir von ihr.«
Nach kurzem Zögern wandte sie sich wieder zu ihm um. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie hat mich au f gezogen, als ich klein war. Und dann – ist sie gestorben. Bei einem Autounfall hier in der Nähe. Ich war auch d a bei und …«
»Aber sag mir, woher sie die Halskette hatte«, unte r brach er sie.
Für einen Moment sprach keiner der beiden, dann sa g te sie: »Ich sollte jetzt gehen …« Sie hob die Hände an ihr Gesicht.
»Es tut mir leid, Anna. Ich wollte dich nicht aufr e gen.«
»Ich kenne dich kaum, Ryan. Ich habe genauso wenig das Bedürfnis, dir von meiner Großmutter zu erzählen, wie du mir heute Nachmittag von deinen Eltern erzählen wolltest.«
»Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass es so wichtig für dich ist, sonst hätte ich niemals …«
»Natürlich ist es wichtig für mich!« Das Mondlicht machte die Tränen auf ihren Wangen sichtbar. »Du ve r stehst gar nichts, Ryan! Du warst heute Morgen eine ha l be Stunde lang wütend, nur weil ich deine Eltern erwähnt hatte.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich nicht auf dich w ü tend war.«
»Auf wen dann?«
»Auf niemanden. Ich war überhaupt nicht wütend. Ich möchte nicht darüber reden, bitte.« Und da sah sie die Tränen in seinen Augen, die gerade zu fließen drohten. »Ich möchte nicht darüber reden«, wiederholte er flü s ternd. Er sah weg, dann hob er in einer stummen Geste der Verzweiflung die Hände. »Warum musstest du das alles nur zu mir zurückbringen, Anna? Ich kann dir die Geschichte meines Lebens nicht erzählen. Aber wenn ich es doch tun würde, müsste ich zuerst wissen, woher deine Großmutter diese Halskette hatte.«
»Warum?«, fragte sie, jetzt ruhiger. Der Mond ve r schwand hinter einer Wölke, und die Dunkelheit bildete eine Mauer zwischen ihnen.
»Ich kann es nicht erklären. Ich wünschte, ich könnte es, weil …« Er zögerte. »Ich möchte es dir sagen. Das möchte ich wirklich.« Seine Hand tastete in der Dunke l heit nach ihrer.
»Dann sag es mir.«
In diesem Moment rief ihn sein Onkel von dem e r leuchteten Fenster aus. »Ryan, komm rein. Jetzt sofort!«
Sie sahen sich eine Minute lang an. Dann senkte Ryan die Augen. »Ich muss gehen.«
Er sah einmal zurück, während er langsam auf das Haus zuging, dann rief sein Onkel wieder nach ihm, und er fing an zu rennen.
Anna drehte sich um und ging, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen, über den Strand davon. Aber sie konnte immer noch ganz genau spüren, wie er ihre Hand genommen hatte, so als hätte die Berührung einen ble i benden Abdruck auf ihrer Handfläche hinterlassen.
Ich lag auf dem Bett und starrte zur Decke hoch, sodass ich Pater Dunstan nicht gleich bemerkte, als er ins Zi m mer kam. Ich dachte daran, dass das letzte Mal, als ich hier gelegen hatte, gewesen war, als ich noch der alte Leo war – der normale Junge, der einen Bruder namens Sti r ling hatte. Und jetzt, so bald danach – nur drei Tage sp ä ter –, war ich ein Einzelkind, das einen Bruder verloren hatte. Das hier war nicht wirklich ich. Es war zu schnell passiert. Es war nicht nur Stirling, der fort war. Ich war nicht mehr ich selbst. Ich hatte einen Teil meiner Ident i tät verloren – einen großen Teil. Ich vergaß allmählich, wer ich war. Leo war ich nur in Verbindung mit Stirling. Ich hatte das seltsame Gefühl, als wäre ich eine verlorene Seele, die in der falschen Situation und im falschen Kö r per gefangen ist. Ich erkannte mich selbst nicht mehr im Spiegel. Alles an mir war anders geworden.
Erst als Pater Dunstan die Tür hinter sich zumachte, hörte ich ihn und setzte mich auf.
»Entschuldige, Leo«, sagte er. »Aber ich
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