Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
zur Hand, um zu antworten.
»Du musst wissen, dass es keinen Grund gibt, weshalb du bestraft werden müsstest, Leo. Du trägst keine Schuld an Stirlings Tod, und dich selbst dafür zu bestrafen, e r gibt keinen Sinn.« Er sah mich an.
Ich hob den Bleistift auf und schrieb: Sie können mich nicht zwingen zu sprechen.
Er seufzte. »Das weiß ich, Leo. Trotzdem glaube ich, dass es das Beste für dich wäre. Wie wäre es, wenn du nur dann sprechen würdest, wenn es nötig ist? Wenn du unbedingt kommunizieren musst. Du brauchst nicht über deine Gefühle zu reden. Du könntest zum Beispiel nur die Fragen beantworten, die dir die Menschen stellen.«
Manchmal will ich nicht antworten. Was dann?
»Du könntest das einfach sagen.«
Ich werde darüber nachdenken.
»Danke, Leo. Du bist ein guter Junge.«
»Seien Sie nicht so gönnerhaft«, sagte die Stimme in meinem Kopf.
»Entschuldige«, sagte er, als er mein Stirnrunzeln sah. »Aber trotzdem danke. Und was das Vorlesen während der Andach t a ngeht, würde ich mich freuen, wenn du dich dazu entschließen könntest. Das würde ich wirklich. Ich denke, Stirling würde es genauso ergehen.«
Ich sagte, ich denke darüber nach. Ich schob ihm den Bleistift und den Zettel wieder hin, legte mich auf dem Bett zurück und drehte mich zum Fenster. Er bückte sich, um den heruntergefallenen Stift aufzuheben.
»Danke, Leo«, wiederholte er.
Ich biss mir auf die Lippen, um einen lauten Schluc h zer zurückzuhalten, bis er gegangen war.
Ich dachte darüber nach, während des Trauergottesdien s tes etwas zu sagen. Am nächsten Tag ging ich zu Sti r lings Grab. Ich setzte mich davor auf den Boden, b e trachtete das Holzkreuz mit Stirlings Namen und übe r legte, was ich tun sollte. Mein Bruder, der so wichtig für mich gewesen war, war plötzlich aus meinem Leben g e rissen worden. Ich konnte jetzt nichts mehr für ihn tun, außer diesen tristen, öden Verrichtungen wie einen Bl u menstrauß niederzulegen, das Gras auf seinem Grab zu schneiden oder vielleicht während seiner Andacht zu sprechen. Ich wollte so dringend wie früher mit ihm r e den. Er war der Einzige, mit dem ich je wirklich gespr o chen hatte. Ich wollte ihn fragen, ob ich bei der Andacht lesen sollte, so wie ich es vor seinem Tod getan hätte.
»Was soll ich nur tun, Stirling?«, fragte Die Stimme, bekam aber keine Antwort. »Was denkst du, was ich tun soll?« Ich stellte ihn mir vor, wie er gewesen war, wenn wir über etwas gelacht hatten, oder wenn er mir eine Fr a ge gestellt oder über die Bibel geredet hatte. Was hätte er mir geraten?
»Soll ich während deines Trauergottesdienstes spr e chen, Stirling?« Die anschließende Stille drückte nicht nur das Fehlen einer Antwort aus; sie schien das Gege n teil einer Antwort zu sein.
»Das ist idiotisch!«, sagte Die Stimme in meinem Kopf, und ich ging nach Hause.
Großmutter war nicht da. Ich vermutete, dass sie unten im Waschraum oder vielleicht auf dem Markt war. Aber es gab zu Hause nichts zu tun, und nachdem ein paar Stunden vergangen waren und ich überprüft hatte, dass sie weder im Haus noch auf dem Hof oder im Wasc h raum war und draußen ein Sturm aufzog, beschloss ich rauszugehen, um sie zu suchen. »Großmutter. Ich bin weg, um dich zu suchen. Komme bald zurück«, hinte r ließ ich als Nachricht auf dem Tisch.
Es fing an zu regnen. Schon seit ich aus Ositha zurück war, regnete es fast ohne Unterbrechung. Den ganzen Tag über hatten sich die Wolken zusammengeballt, und nun barsten sie plötzlich. Blitze und Donner krachten gegen die Häuser, so als wären sie eine feindliche Strei t macht, die plötzlich die verwundbare Inselstadt angriff. Ich wusste nicht, wohin ich lief, aber ich konzentrierte mich angestrengt darauf, mir vorzustellen, wo Großmu t ter hingegangen sein könnte, und mir fiel seltsamerweise die Schule ein. Es gab keinen Grund, warum sie ausg e rechnet dort hingegangen sein sollte, aber trotzdem lief ich nach Westen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, durch die Stadt g e gangen zu sein, aber ich erinnere mich daran, wie ich die Straße zur Schule hinaufrannte. Der Regen fiel mit voller Wucht, und Blitze loderten gegen die Gebäude. Ich hörte Rufe und Gelächter, und jemand sang ein Lied. Es muss gerade Pause sein, realisierte ich. Die Tatsache, dass die Schule einfach so weitergehen könnte, erschien mir a b surd. Aber sie waren alle dort im Hof versammelt, die Jungen, die ich früher einmal gekannt hatte.
Dann sah
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