Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
möchte mit dir sprechen.« Ich schwang die Beine über den Bettrand, stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte ihn an. Er drehte den Stuhl um, sodass er mir gegenübersitzen konnte. »Ich wollte mit dir über den Gedenkgottesdienst sprechen. Deine Großmutter un d i ch finden beide, dass es schön wäre, wenn du etwas sagen würdest.« Ich sah ihn fragend an. »Vielleicht könntest du etwas aus der Bibel vorlesen oder ein paar Worte sagen, bevor der Gotte s dienst anfängt. Ich weiß, dass das schwer für dich sein wird, aber du bist der Mensch, der Stirling von allen am nächsten stand, und die, die ihn geliebt haben, würden gern hören, was du über ihn zu sagen hast. Ich weiß, dass das so kurz nach einem solchen Verlust nicht leicht ist, aber oft bedauern die Menschen anschließend, so eine Chance nicht ergriffen zu haben.« Er wirkte verunsichert, als er meinen Gesichtsausdruck sah. »Könntest du sonst vielleicht aus der Bibel vorlesen?« Ich starrte ihn weite r hin wortlos an. »Natürlich musst du nicht. Lass es dir einfach mal durch den Kopf gehen.«
Ich nickte widerwillig.
»Da ist noch etwas anderes, Leo«, fuhr er fort. »Du sprichst nicht mehr.« Ich schüttelte den Kopf. »Denk daran, dass, je länger man so einem Weg folgt, es desto schwerer wird, ihn wieder zu verlassen.« Ich starrte ihn an und sagte nichts. »Und es kann zu Missverständnissen führen. Manchmal ist es besser, über Dinge zu sprechen, als sie für sich zu behalten.« Ich schwieg. »Wie wäre es, wenn du dich jetzt überwinden würdest zu sprechen, d a mit wir darüber reden können, und danach, falls du dann immer noch der Meinung bist, dass es das Richtige ist, kannst du wieder schweigen?« Er verstand es einfach nicht. »Wie wäre es mit schreiben? Ich möchte mich u n bedingt mit dir unterhalten.« Schließlich nickte ich, o b wohl ich nichts aufschreiben wollte. Das war nicht der Sinn der Sache. Der Sinn der Sache war der, dass ich überhaupt nicht kommunizierte.
»Hier.« Er gab mir einen Bleistift aus seiner Tasche und einen zerknitterten Zettel. »Warum sprichst du nicht?«
»Was zur Hölle geht Sie das an?«, fragte die Stimme in meinem Kopf.
Aus vielen Gründen , schrieb ich, und meine Hand zi t tert e d urch den Druck, den ich auf den Bleistift ausübte. Die Mine brach.
Er holte ein Taschenmesser heraus, spitzte schweigend den Bleistift, fegte die Holzsplitter mit dem Handrücken auf den Boden, dann fragte er: »Was für Gründe?«
Weil ich dann keine dummen Fragen beantworten muss , schrieb ich.
»Gibt es noch andere?«
Worte langweilen mich. Es gibt nicht genügend.
»Nicht genügend wofür?«
Um auszudrücken, was ich sagen will.
Er blieb für einen Moment still, dann meinte er: »Weißt du, Stirling würde sich wahrscheinlich nicht wünschen, dass du schweigst. Wahrscheinlich wäre es ihm lieber, wenn du sprechen würdest, und wenn du es auch nur tätest, um deine Großmutter zu unterstützen und bei seinem Gedenkgottesdienst zu lesen. Er würde wo l len, dass du das Richtige tust.«
»Wie können Sie es wagen?«, rief die Stimme in me i nem Kopf. »Nachdem Sie gerade erst gesagt haben, dass ich Stirling von allen Menschen am nächsten stand. Wie können Sie wissen, was Stirling gewollt hätte?«
Er ist tot, also wird er es nicht erfahren.
»Glaubst du das?«, fragte er ruhig. »Denkst du nicht, dass er dich sehen kann oder weiß, was du tust?«
Ich gab keine Antwort.
»Oftmals scheint es das Richtige zu sein, sich an einen Schwur, wie zum Beispiel den, nicht zu sprechen, zu ha l ten. Aber es könnte in Wirklichkeit eine Falle sein, die verhindert, dass man in die Normalität zurückfindet.«
Wie könnte ich in die Normalität zurückfinden?
»Manchmal muss die Normalität neu definiert werden. Aber am Ende, auch wenn es jetzt nicht den Anschein hat, wirst du in gewissem Maße dein gewohntes Leben wieder aufnehmen.«
Also sollte ich sprechen?
»Das ist deine Entscheidung. Aber ich denke, Stirling wäre eher froh, wenn du anderen zuliebe wieder sprechen würdest, als verärgert darüber, dass du dein Versprechen gebrochen hast.«
Wir saßen schweigend da. Ich zog auf dem Papier eine Linie von einer Ecke zur anderen, aber sie kam nie dort an, deshalb gab ich auf und ließ den Bleistift fallen.
»Gibt es noch andere Gründe, aus denen du beschlo s sen hast, nicht mehr zu sprechen?«, fragte er. »Ist es vie l leicht eine Art Bestrafung?«
Er wartete, aber ich nahm den Bleistift nicht wieder
Weitere Kostenlose Bücher