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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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bewirkten, dass ich plötzlich lieber sterben wollte als die Minuten bis zum Sonnenaufgang zu zählen. Ich lag da und wünschte mir wieder und wieder, schneller gerannt zu sein, bis ich mir fast einbildete, es getan zu haben, bevor mir wieder einfiel, dass es nicht so war und Sti r ling deshalb gestorben war. Ich weinte stundenlang. Als ich schließlich blass und mit geschwollenen Augen au f stand, war mir übel, und mein Herz war schwer. Ich sah in den Spiegel und wunderte mich, wie ich mir jemals hatte einbilden können, gut auszusehen.
    Großmutter bat mich, auf den Markt zu gehen. Wir hatten fast keine Lebensmittel mehr.
    »Wie geht es dir, Leo?«, erkundigte sich Mr. Pearson am Obst- und Gemüsestand. »Und was macht dein kle i ner Bruder Stirling?« Ich konnte nicht sprechen. »Was hast du denn?«, fragte er, als er sah, dass ich mit den Tränen kämpfte. »Fühlst du dich nicht gut?« Ich tat die Frage mit einer Handbewegung ab, dann hastete ich d a von, bevor irgendjemand mich weinen sehen konnte.
    In der Wohnung gab es nichts zu tun. Ich fand den Abschnitt, den ich bei der Andacht vorlesen sollte, in Stirlings Bibel un d b eschloss, ihn einzuüben. Aber dann fing ich wieder an zu weinen, weil auf dem Titelblatt der Bibel in der Handschrift meines Vaters stand: »Für Sti r ling zu seiner Taufe. Mögest du beschützt im Licht der Gesetze Gottes aufwachsen. In Liebe, deine Eltern.« Ich erinnerte mich daran, wie er es geschrieben hatte.
    Und nun waren sie alle so weit weg – Mutter und V a ter und mein kleiner Bruder Stirling. Es tat weh, seinen törichten Wunsch zu lesen, dass sein Sohn von den G e setzen Gottes beschützt sein sollte, denn niemand konnte allein durch die Gesetze Gottes beschützt werden. Weil Gott nämlich im Himmel war, und wir waren auf der E r de, und er konnte uns nicht erreichen, selbst wenn er es gewollt hätte. Und Gott gefiel es, die Menschen auf die Probe zu stellen – herauszufinden, was es erforderte, sie zu brechen.
    Und die Gesetze Gottes sind kein Licht, dachte ich. Sie sind eine Last, die keiner von uns tragen kann. Die, die es versuchen, werden von ihr zerschmettert.
    Das Schlimmste war der Gedanke an Vater und Mutter in Alcyria, oder noch weiter weg, die glaubten, dass Sti r ling noch immer am Leben war. Sie hatten ihn verlassen, als er zwei Jahre alt war. Vater wurde damals steckbrie f lich gesucht, und sie mussten so schnell wie möglich fliehen. Sie versprachen, uns in den nächsten ein oder zwei Monaten eine Nachricht zu schicken, um uns zu sagen, dass wir nachkommen sollen. Falls sie es getan haben, hat sie uns nie erreicht. Großmutter glaubte, dass sie über die Grenze gegangen waren, aber sie ließ nicht zu, dass wir ihnen folgten. Sie war überzeugt, dass sie tot waren.
    Ich habe mich nicht so gut um Stirling gekümmert, wie meine Eltern es von mir erwartet hätten. Mutter hätte nicht zugelassen, dass er das Stille Fieber aufschnappt. Vater wäre den ganzen Weg aus den Östlichen Bergen nach Hause gerannt, egal, wie müde er gewesen wäre.
    Ich überflog den Abschnitt, den ich vorlesen sollte, und ve rs uchte mir vorzustellen, wie ich es bewerkstell i gen würde. Aber inzwischen machte ich mir Sorgen, dass ich zusammenbrechen und weinen würde; ich würde vorne in der Kirche zusammenbrechen, und jeder würde mich sehen. Also klappte ich die Bibel zu, setzte mich hin und starrte durch das Fenster die immer gleiche Au s sicht an, während Großmutter unser Essen kochte. Ich aß kaum etwas. Ich fühlte mich schuldig, weil ich so nervös war wegen meines Vorlesens bei der Andacht. Aber es war nicht nur das Lesen – es war das Ganze. Jeder würde mich ansehen, beobachten, wie ich reagiere, und es war meine letzte Gelegenheit, mich für immer von Stirling zu verabschieden.
    »Hilf mir, Stirling«, sagte ich in Gedanken, als ich im Bett lag und vor Sorge nicht einschlafen konnte. »Hilf mir. Ich kann nicht vorlesen. Ich kann es einfach nicht. Ich werde nicht fähig sein zu sprechen.« Ich versuchte vergeblich, mir Stirlings Antwort vorzustellen. Stirling fielen immer freundliche und kluge Dinge ein, die er s a gen konnte, Dinge, dir mir selbst nie einfallen wollten. »Ich wünschte, du wärst bei mir, Stirling.« Noch immer drang kein Ton über meine Lippen, nur ich konnte die Worte hören. »Mir war nie klar, wie sehr ich dich bra u che.« Dann weinte ich mich in den Schlaf.
    Ich träumte, dass ich vorne in der Kirche stand, doch ich war stumm. So, als hätte ich das

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