Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
dieselbe Weise im Licht der Straßenlaternen funkelte wie mein Taufarmband. Aus dieser Nähe konnte ich sogar die Linien auf den Händen dieses berühmten Mannes sehen und die feinen, grauen Strähnen in seinem Haar. Ich hatte den Mann nicht erschossen, sagte ich mir wieder und wieder. Es war unmöglich.
Dann hörte ich Pferdehufe und Stimmen, die sich von hinten näherten. Soldaten! Ich kroch in die dunkle Se i tengasse und beobachtete sie. Sie brachten ihre Pferde zum Stehen und saßen hastig ab. Ohne zu wissen, was ich tat, stand ich auf und wankte wieder die Treppe hi n auf.
An der Wohnungstür stieß ich mit jemandem zusa m men. Es war Maria. Sie fragte mich, was da unten los sei. Ich konnte nicht aufhören zu zittern. Die Dunkelheit vor dem Fenster war erfüllt von Schüssen.
Großmutter stand auf und kam auf mich zu. »Ich kann die Soldaten da draußen reden hören«, sagte sie panisch. »Sie werden kommen, um mich wegzubringen. Ich bin nicht wahnsinnig! Maria, sie wollen mich mitnehmen, nach allem, was bereits geschehen ist.« Und wieder b e gann sie zu weinen.
Maria legte den Arm um sie, aber ihre Augen waren auf mich gerichtet, während ich mit dem Gewehr in der Hand durch die Wohnung lief. »Leo, du bist von oben bis unten mit Schlamm bedeckt. Was ist passiert? Was wol l te dieser Soldat, der heute hier war? Deine Großmutter hat es mir nicht gesagt.«
Großmutter erklärte es ihr mit bebender, erstickter Stimme.
»Kommt mit hoch in meine Wohnung«, schlug Maria vor. »Sie werden Sie dort nicht finden, Mrs. North. Mein Vater ist zurück, und er wird sie nicht reinlassen.«
Großmutter nickte langsam und blinzelte dabei die Tränen aus ihren Augen. »Danke, Maria.« Dann wandte sie sich an mich. »Leo, holst du mir bitte ein paar A n ziehsachen?«
Ich träumte gerade wieder, und es war schlimmer als je zuvor. Nichts davon passierte wirklich, deshalb war es mir egal. Ich holte ihr ein paar Kleidungsstücke und e i nen dicken Schal. Obwohl es eine warme Nacht war, fühlte sich meine Haut so kalt an wie Stahl, und auch Großmutter zitterte vor Kälte. In meinem Kopf liefen die ganze Zeit über erbarmungslos die Sekunden ab. Ich stellte mir vor, wie Soldaten gegen die Tür hämmerten, um sie in eine Einrichtung für Ungeduldete oder mich ins Gefängnis zu bringen. Weil ich nämlich jetzt ein Krim i neller war, ein Mörder. Ich hatte diesen Mann getötet.
Ich schüttelte den Kopf und drückte mir die Finger g e gen die Augen, bis ich weiße Lichter aufblitzen sah, dann zwang ich meine Hand, die Waffe loszulassen. Das po l ternde Geräusch auf dem Boden ließ Großmutter z u sammenzucken. Mich ebenfalls, obwohl ich es war, der das Gewehr hatte fallen lassen. Maria starrte mich nervös an. Ich nahm den Wasserkrug vom Tisch, um so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre. Aber auf dem Weg in die Küche überfiel mich ein Zitteranfall, und er rutschte mir aus der Hand und zerschellte auf dem Boden.
»Ach, Leo!«, hörte ich Großmutter ausrufen. »Es ko s tet uns ein Vermögen, ihn zu ersetzen!« Sie klang genau wie früher, und ihre Bemerkung war nach dem, was g e rade passiert war, umso lächerlicher. »Warum kannst du dich nicht bemühen, so vorsichtig zu sein wie …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Sie hatte sagen wollen: wie Stirling.
»Leo«, sagte Maria leise. »Du bist nicht du selbst. Komm mit nach oben und setz dich für eine Weile hin. Oder sag mir, was los ist.« Sie sah mich unverwandt an. »Willst du einfach nur allein sein? Ist es das?« Ich nickte, um sie in Sicherheit zu wiegen. Ich fühlte, wie meine Zähne aufeinanderschlugen. »Ich bi n i n einer Minute zurück«, versprach sie. »Ich helfe nur kurz deiner Gro ß mutter nach oben.«
Nachdem sie weg war, hob ich das Gewehr wieder auf. Ich zog den Bolzen zurück, um nachzuladen, dann sah ich, dass da keine Kugeln mehr waren. Diese eine war die letzte gewesen. Beinahe hätte ich darüber g e lacht, obwohl es nicht lustig war. Doch mir fiel etwas ein. Ich ging ins Schlafzimmer und öffnete die Truhe unter dem Fenster. Unter der Soldatenuniform lag die noch immer geladene Pistole. Ich nahm sie heraus, übe r prüfte den Sicherungshebel und steckte sie in die Tasche.
Ich ging raus und die Treppe hinunter, wobei ich mich am Geländer abstützte, um nicht zu fallen. Ich versuchte, mich dazu zu zwingen, nicht zu der Stelle zu sehen, wo Ahira gestorben war, aber mein Blick wanderte aus eig e nem Willen dorthin. Die Leiche war weg. Ein
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