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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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hin. »Lauf voraus und ruf einen Krankenwagen«, befahl Aldebaran.
    Als sie das Seeufer erreichten, öffnete Anna die Augen erneut. Die Sterne funkelten im Gleichklang mit dem Schlag ihres Herzens – und wurden dunkel …
    In diesem seltsamen Land stieg der Mond hinter einer Wolke empor, als würde er auf Schienen gleiten. Er b e leuchtete jeden Baum und jede Kräuselung auf dem Wa s ser und schien hinunter auf den Krankenwagen, der sich entlang der Uferstraße bewegte. Und über den Östlichen Bergen Malonias, in einem anderen, engeren Tal, wurde der Mondschein heller und verschärfte sich dann zu de r selben Farbe, so als ob es zwischen den Welten keine Barriere mehr gäbe.
     
    I n den Tagen nach Ahiras Tod beanspruchten hu n dert Menschen die Tat für sich. Vielleicht hatten sie Recht. Es war wirklich nicht ich gewesen. Es war, als ob jemand die Kontrolle über meine Hand und meinen Geist übe r nommen hätte. Ich hatte schätzungsweise eine halbe S e kunde darauf verwandt, die Waffe au s zurichten, und trotzdem hatte die Kugel ins Ziel g e troffen. Und Ahira war zusammengebrochen, vor langer, langer Zeit. Fast hätte ich glauben können, dass es jemand anderer gew e sen wäre, der gescho s sen hatte.
    Aber ich muss ehrlich sein – in der halben Sekunde, in der ich mit der Waffe zielte, wusste ich, was ich tat. Ich fühlte mich, als wäre mir vieles klar geworden. Es war nicht Ahira, auf den ich schoss; zumindest nicht nur er. Es war Sergeant Markey, wegen dem, was er über unsere Mutter gesagt hatte; der Schuldetektiv, der mich mit Drohungen in die Schule zurückgetrieben hatte; der Se r geant in Ositha, der mir so enge Fesseln angelegt hatte, dass sie in mein Fleisch schnitten; die Soldaten, die die Stadt abriegelten und mich nicht zum Grab meines Br u ders gehen ließen; die beiden, die Großmutter in den Morast gestoßen hatten; der Gefreite, der an unsere Tür gekommen war und ausgesehen hatte, als ob er sich vor uns ekelte. Ich gab diesen Schuss ab, weil sie mich dazu getrieben hatten. Sie hatten es sich selbst zuzuschreiben. Das war es, was ich in di es er halben Sekunde der Stille empfunden habe. Als wäre nicht ich verantwortlich, so n dern er.
    Bald wird die Dämmerung anbrechen, und ich sitze noch immer hier und lese. Du musst längst schlafen, überzeugt davon, dass ich heimgegangen bin. Oder vie l leicht siehst du auch aus einem Fenster. Es ist der du n kelste Moment, bevor die Sonne aufgeht, und ich bin der Einzige, der jetzt noch übrig ist. Auf dem Balkon herrscht Stille.
    Ich erinnere mich daran, wie die Stadt in der Nacht aussah, als ich in die Berge lief – seltsam und vage und gleichzeitig zu solide. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht begriffen, was ich getan hatte. Ich habe inzwischen ausreichend Zeit gehabt, es zu begreifen. Ich habe das hier zu Papier gebracht, weil du mich gefragt hast, w a rum ich es tat. Du hast mich gebeten, es dir zu erklären.
    Ich hätte Ahira nicht erschossen, wenn Großmutter damals nicht in die Nacht hinausgewandert wäre. Wenn diese Soldaten nicht exakt in der Minute aufgetaucht w ä ren, als ich bereits so verzweifelt war. Wenn ich den Mund gehalten hätte, anstatt sie wüst zu beschimpfen. Selbst nach allem, was geschehen war – nachdem Sti r ling gestorben war –, hätte ich es in einem anderen M o ment nicht getan. War es also nur Zufall? Ich weiß es nicht. In dieser halben Sekunde damals, als alles stil l stand, hasste ich Ahira. Maria hat mir einmal gesagt, dass ich ihn niemals so sehr hassen könnte wie sie. Sie hat sich geirrt. Ich tat es. Warum, wusste ich nicht.
    Ich habe nicht den Mut weiterzulesen, aber wenn ich es nicht tue, muss ich dich dies lesen lassen. Und das kann ich noch nicht. Nicht nach all der Zeit. Jetzt, wo ich angefangen habe, werde ich bis zum Ende lesen. Mir fällt inzwischen nichts mehr ein, was ich sonst tun könnte.

 
    D raußen in den Bergen schreckte ich plötzlich hoch, ohne zu wissen, warum. Da war jemand ganz in der Nähe.
    Ich ließ meinen Finger vom Abzug der Pistole gleiten, aber ich hielt sie weiter gegen meinen Kopf gerichtet. Ein Mädchen bewegte sich auf der anderen Seite des Tals. Das Mondlicht verwandelte ihre Augen in pures Silber und meißelte ihr tiefe Schatten ins Haar. Alles war plöt z lich heller geworden. Die Sterne ließen den Himmel blau erstrahlen; der Fluss glänzte wie flüssiges Silber. Das Mondlicht ergoss sich in dieses enge Tal, spülte über das Mädchen auf der einen, mich auf der

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