Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
dunkler Fleck prangte an der Stelle, wo sich das Blut nicht mit dem Schlamm mischen und verschwinden wollte. Ich glaube, ich wäre selbst heute noch in der Lage, die Stelle auf den Zentimeter genau zu finden. Sie hatte sich mir damals in den Kopf eingebrannt, und ich konnte sie nie wieder aus meiner Erinnerung löschen.
Ich hörte Schüsse in der Stadt. Sie wurden langsam zu einem vertrauten Geräusch, so als wären sie ein Teil des Wetters. Rauch stieg von irgendwoher auf. Die Sterne, die über mir über den Himmel zogen, während ich lief, waren ganz klar; die Gebäude sahen im Mondlicht übe r wirklich solide aus, fast wie eine leere Bühnenkulisse. Alles sah so aus. Ich fing an, meine Schritte zu zählen.
Plötzlich sprach Die Stimme zu mir. »Kehr um! Geh zu Maria zurück und warte, bis du dich beruhigt hast. Lauf nicht weiter.« Ich ignorierte sie.
Die Schüsse in der Stadt waren abgeklungen, als ich das Friedhofstor erreichte. Als ich dort stand, erschien mir der verlassene Friedhof unendlich groß und die Stadt jenseits der Br üc ke unendlich weit weg. Stirlings Grab war der einzige sichere Ort. Ich fand es und kniete mich neben das Holzkreuz. Das Mondlicht fiel über das Gras und beleuchtete die Buchstaben der Inschrift. Erst in di e sem Moment dachte ich wirklich an Stirling. Bis dahin hatte ich fast überhaupt nicht gedacht. Langsam begriff ich, was ich getan hatte.
Ich konnte hier nicht bleiben – ich musste weiterla u fen. Plötzlich beschloss ich, in die Berge zu gehen. Ich ließ, ohne nachzudenken, die Stadt hinter mir.
Der Morgen muss schon fast gedämmert haben, als ich endlich stehen blieb, obwohl es genauso dunkel war wie zuvor. Ich war nun außer Hörweite der Kirchturmglocken der Stadt. Das letzte Mal, als ich sie gehört hatte, hatten sie drei geschlagen. Ich war zu müde, um weiterzugehen. Ich ließ mich ins Gras fallen und starrte zu den Sternen hoch.
Ich fühlte nichts – aber ich wusste, dass sich das schon bald ändern würde. Den ganzen Weg von der Stadt hie r her hatte ich versucht, es mir bewusst zu machen. Ich hatte Ahira erschossen – ihn wirklich erschossen; es war nicht nur ein Traum. Ich konnte nichts tun, um es zu ä n dern. Mein Leben war zerstört, und es gab keine Mö g lichkeit, den angerichteten Schaden wiedergutzumachen. Und wenn ich jetzt zurückgehen und versuchen würde weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre, wüsste ich trotzdem an jedem einzelnen Tag, dass ich ihn erscho s sen hatte. Auf dieselbe Art, wie ich nun an jedem einze l nen Tag wusste, dass Stirling tot war. Ich konnte nicht zurückgehen. Es wäre zu viel – ich hatte nicht die Kraft.
Ich setzte mich auf und zog die Pistole aus der Tasche. Ich nahm die Kugeln heraus und zählte sie, dann steckte ich sie wieder ins Magazin, ließ es einrasten und löste den Sicherungshebel. Es würde einfach sein. Man kann den Abzug einer Del mar . 45 mit dem kleinen Finger bet ä tigen. Es wäre sogar ei nf ach, durch Zufall abzudr ü cken. Vielleicht war das der beste Weg, überlegte ich. Einfach weiterzudenken und dann den Abzug zu betätigen, wä h rend ich mich nicht darauf konzentrierte, damit ich nicht an den Schmerz dachte. Vor Schmerz hatte ich schon immer Angst gehabt. Ich wäre nie ein guter Soldat g e worden.
Ich richtete die Waffe auf meinen Kopf und versuchte, den Mut zu finden, es zu tun. Gerade genug, um den A b zug zu drücken, und das wäre dann das Ende von allem. Das wirkliche Ende, dieses Mal. Ich schloss die Augen.
Aldebaran und Ryan knieten regungslos im Wald.
Plötzlich sprang Ryan auf. »Hast du das gehört?«
»Was?« Aldebaran versuchte nicht, die Tränen zu ve r bergen, die ihm über das Gesicht liefen.
»Da war ein Geräusch, Onkel. Oben, bei der alten K a pelle.«
Ryan rannte voraus. Aldebaran folgte ihm. Sie erreic h ten die Kapellentür und blieben schweigend stehen. Da lag jemand.
»Anna«, sagte Ryan schließlich. »Anna, Anna.« Er rannte zu ihr und bettete ihren Kopf auf seine Knie. Dann legte er ihr die Hand an die Stirn, und als er sie zurüc k zog, war sie dunkel von Blut. Er weinte nun auch. »Hilf mir, Onkel!«
Aldebaran kauerte neben Anna nieder. »Sie atmet.« Und einen Moment später sagte er: »Es sind nur obe r flächliche Wunden.«
Aldebaran hob Anna auf die Arme, und sie gingen durch den Wald zurück. Sie wachte auf, erkannte sein Gesicht und versuchte, ihm etwas mitzuteilen, doch dann schlossen sich ihre Augen wieder. Ryan betete still vor sich
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