Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
»Hör zu! Ich weiß nicht, ob ic h g erade sterbe oder wieder zu mir komme. Es ist nicht meine Entscheidung. Vielleicht werde ich all den Dingen nachtrauern, die ich nicht getan habe, aber ich habe keine Möglichkeit, es zu ändern. Jeder stirbt irgendwann. Jeder endet am selben Ort, und meistens kann man nichts dagegen machen. Aber sich umzubri n gen, ist nicht dasselbe.«
Sie sprach schnell, so als wollte sie mir diese Dinge unbedingt sagen, bevor sie mich für immer verließ.
»Mein Vater war erst zwanzig«, fuhr sie fort. »Er war ein guter Mann, und er ist gestorben. Meine Großmutter war fünfzig, und wir brauchten sie alle, wir brauchen sie auch heute noch, und es gibt nichts, was wir tun können. Es ergibt keinen Sinn. Menschen sterben, obwohl sie so viel hätten leisten können, wenn sie am Leben geblieben wären. Aus irgendeinem Grund bekam ich mehr Zeit und sie nicht. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass sie starben, während ich zurückblieb, oder vielleicht gibt es einen höheren Grund. Doch wenn du derjenige bist, der z u rückbleibt, um weiterzuleben, dann musst du das akze p tieren.«
»Du hast nicht getan, was ich getan habe. Ich bin fün f zehn Jahre alt und habe einen Mann erschossen. Jetzt verrat mir, wie ich damit weiterleben soll.« Ich sagte das nicht verbittert. Ich wollte ihren Rat. »Bitte sag mir, wie ich weiterleben kann.«
Aber sie verblasste immer mehr.
Ich streckte wieder den Arm aus. »Nimm meine Hand. Wenn du meine Hand nimmst und mir damit beweist, dass du real bist, werde ich die Waffe wegwerfen und nach Hause gehen.«
Sie war zu weit weg.
Ich stand hastig auf. »Verlass mich noch nicht!« Ve r zweifelt ging ich durch den Bach auf sie zu, und für eine Sekunde fühlte ich noch nicht mal das Wasser um mich herum.
Im nächsten Moment war ich allein in den Östlichen Bergen. Ich stand mit einer Waffe in der Hand bis zur Hüfte i n e inem eiskalten Fluss in der Dunkelheit. Das Mondlicht war verschwunden.
Langsam hob ich die Pistole wieder. Ich dachte an Stirling – acht Jahre alt und tot – und an all die Dinge, die er bereits getan hatte; all die Dinge, deretwegen ich ihn nun so sehr vermisste, dass ich es kaum ertragen konnte. Dann dachte ich an Ahira und an den Moment, als ich realisiert hatte, dass er tot und es meine Schuld war. Gleichgültig, was er Böses getan hatte, gleichgültig, wie wenig wertvoll seine Zukunft für die Welt gewesen wäre – ich war derjenige, der sie ihm weggenommen ha t te, und er würde nie wieder irgendetwas tun können. Und der Schmerz in meinem Herzen war zu groß, um weite r zuleben, und die Bürde meiner Tat war schon jetzt zu schwer, aber plötzlich konnte ich auch das hier nicht tun.
Denn manches kann man leicht tun und dennoch für immer bereuen. Ich hatte Ahira erschossen, und ich wü r de dafür bezahlen. Mich selbst zu töten, war eine zu g e waltige Tat. Es wäre genau dasselbe.
Ich ließ die Waffe los. Das Wasser riss sie mit sich, schmetterte sie gegen einen Felsen und zog sie dann u n ter die Oberfläche. Ich fühlte eine größere Verzweiflung als in all diesen letzten Tagen, seit Stirling gestorben war. Es ist seltsam, wie leicht es war, den Abzug zu dr ü cken und Ahira zu erschießen. Und wie schwer es dag e gen war aufzustehen, mich umzudrehen und nach Hause zu gehen.
Im englischen Krankenhaus regte sich Anna, sah nach oben in das Licht. Sie hatte geträumt.
Ryan ging zu ihr. Sie sah ihn in ihrer Vision auf sich zugleiten – sein Kopf war immer noch bandagiert – und versuchte, sich aufzusetzen, aber sie sank außer Atem wieder nach hinten. Auf seinem Gesicht schimmerten Tränen.
»Warum weinst du?«, murmelte sie.
»Ich hatte Angst um dich. Sie haben gesagt, dass es dir gut geht, aber ich war mir nicht sicher.« Er kniete sich neben ihr Bett und betrachtete ihr Gesicht. »Anna.«
Vor ihren Augen wurde ihre Umgebung allmählich schärfer. Ein kahler, weißer Raum mit einem großen Fenster. »Wo sind wir?«
»Im Krankenhaus. Erinnerst du dich nicht?«
Ihr tat der Kopf weh, und das Zimmer drehte sich noch immer. Das frühe Sonnenlicht, das durch die Jalousie hereinfiel, warf Streifen über den Boden. Vorsichtig legte sie die Hand an ihr Gesicht und erschrak, als sie die St i che an ihrer Wange fühlte. »Ryan, was …? «
»Es sind in Wirklichkeit nur Schrammen«, sagte er. »Von Streifschüssen. Eine an deiner Schulter; eine an deinem Arm; eine auf deiner Wange; eine an deiner Se i te. Keine der Kugeln ist
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