Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
wo mein Herz nicht mehr so wehtat wie hier – wo ich nicht mehr diesen unerträglichen Schmerz spürte, der die Tage in Monate, die Wochen in Jahre verwandelte und alles bitter machte. »Das ist es, was ich will.«
Sie schüttelte den Kopf. »Was ich will, ist mehr Zeit.«
»Mehr Zeit?«
»Ja. Falls ich gerade sterbe, gibt es nichts, was ich d a gegen machen kann. Ich weiß nicht, ob ich es tue. Aber ich will zumindest noch eine Zeitlang weiterleben.«
»Warum?«
Sie fing an, mir von ihren Zukunftsplänen zu erzählen und dass sie Tänzerin werden wollte. Ich sagte ihr, dass meine Mutter vor langer Zeit als Sängerin und Tänzerin gearbeitet hatte. Sie redete darüber, wie schnell sich die Dinge veränderten und wie schnell die Zeit verging, so als könnte sie mich damit davon überzeugen, die Waffe wegzuwerfen und heimzugehen. Aber über die Zukunft nachzudenken, festigte nur meinen Entschluss , niemals zurückzukehren. Die Zukunft bedeutete mir nichts mehr. Weitere fünfzig oder sechzig Jahre ohne Stirling und i r gendwann auch ohne Großmutter. Sobald sich diese sel t same Müdigkeit aus meinem Kopf verzogen hätte, würde mic h d ie Reue über das, was ich getan hatte, einholen – und was dann?
»Die Zukunft ist zu lang«, sagte ich. »Ich bin zu müde. Ich kann nicht so viele Tage weiterleben – ich würde den Verstand verlieren. Wenn man mich nicht zum Tod ve r urteilt oder ins Gefängnis sperrt …«
»Du weißt nicht, was die Zukunft bringen wird.«
»Ich weiß in groben Zügen, was die Zukunft bringen wird. Und es ist ausgeschlossen, dass es etwas Gutes sein könnte. Ich möchte noch mal von vorne anfangen.«
»Aber der Tod ist kein neuer Anfang desselben L e bens – er ist etwas anderes.«
»Woher willst du wissen, was er ist?« Ich war plöt z lich wütend. »Und du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun habe, wenn du einen Dreck über mich weißt.«
»Ich schreibe dir nicht vor, was du zu tun hast. Sag mal – gibt es bei dir zu Hause nicht Menschen, die dich brauchen?«
Ich schüttelte den Kopf. Niemand brauchte mich; ich hatte sie alle im Stich gelassen. Ich war nicht schnell g e nug aus den Bergen zurückgelaufen, und ich konnte Sti r ling nicht zurückholen. Großmutter hätte mich an ihrer Seite gebraucht, aber ich hatte ihr den Rücken zug e wandt, um nach Ositha zu marschieren, und sie zerbrec h lich und hilflos zurückgelassen. Und ich würde auch nicht verhindern können, dass die Soldaten sie wegbrac h ten.
»Wird dich auch in der Zukunft niemand brauchen?«, fragte Anna. Ich wusste nicht, was sie meinte. Sie musste das an meinem Gesicht erkannt haben, denn sie fuhr fort: »Vielleicht ist da jemand, dem du eines Tages in ferner Zukunft helfen wirst oder der dich braucht, aber wenn du tot wärst, könntest du es nicht tun.«
»Hast du dir jemals so wie ich gewünscht, tot zu sein?«, wollte ich wissen. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
Sie gab erst keine Antwort, aber dann sagte sie plöt z lich: »Es ist schon viele Jahre her, und ich war noch sehr klein.«
»Was hast du dagegen gemacht?«
»Ich habe angefangen, die Tage zu zählen, damit die Zeit schneller vergeht.«
»Gut«, sagte ich ohne großes Interesse. »Und dann?«
»Ich weiß nicht mehr, aber irgendwann muss ich mit dem Zählen aufgehört haben.«
»Warum hast du die Tage gezählt?«
»Ich schätze, um mir selbst beizubringen, im Alltag zu überleben, obwohl sich alles verändert hatte.«
»Wie alt warst du damals?«, wollte ich wissen.
»Fünf.«
»Du warst fünf Jahre alt und hast die Tage gezählt, damit die Zeit vergeht?«
»Es ist keine große Tragödie, sondern einfach mein Leben. Vielleicht gibt es Gründe, weshalb man sterben will und es trotzdem nicht tut. Vielleicht auch nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber ich habe anschließend weitere zehn Jahre gelebt, und jetzt bin ich hier und rede mit dir.«
Sie wirkte in der beginnenden Morgendämmerung noch immer so silbern und schemenhaft, als wäre sie gar nicht wirklich hier. Ich streckte den Arm aus, um sie zu berühren, aber er reichte nicht über den Bach. Außerdem hätte ich es sowieso nicht gewagt. Ich dachte, dass sie sich vielleicht in Luft auflösen würde.
»Du bist irgendeine Art von Engel«, sagte ich. »Also verrat mir bitte, was ich tun soll.«
»Ich bin kein Engel. Aber ich verrat dir trotzdem, was du tun sollst.«
»Nämlich?«
»Wirf die Waffe weg und geh nach Hause.« Mit di e sen Worten begann sie zu verblassen.
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