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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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verblassen.
     
    Ich setzte mich auf die Stufe vor Marias Wohnungstür. Es war der Tag, nachdem ich Ahira erschossen hatte, und noch sehr früh am Morgen. Das Sonnenlicht fiel schräg durch das hohe Fenster im Treppenhaus, und ich saß da und beobachtete es. Nach einer Weile wurde die Tür g e öffnet. »Leo!« Es war Marias Stimme. Ich drehte mich langsam um. Großmutter stand neben ihr.
    »Wir haben uns solche Sorgen gemacht«, sagte Gro ß mutter und nahm meine Hand. »Warst du dort draußen in der Stadt? Hast du die Schüsse gehört?« Sie umarmte mich kurz, dann half Maria mir auf. »Die Dinge werden besser werden«, versprach Großmutter. »Ich werde ein Brot b a cken, und du kannst inzwischen runtergehen und Wasser für Tee holen. Die Dinge werden ab jetzt besser werden.«
    Ich wusste, dass das nicht stimmte. Aber dieses Wi s sen ließ eine seltsame Ruhe über mich kommen. Nach dem, was ich getan hatte, kam es mir heuchlerisch vor, ihr so widerspruchslos nach Hause zu helfen, aber ich nahm trotzdem ihren Arm, und wir gingen zusammen die Treppe hinunter.
     
    I ch beobachte die letzten Lichter, die in der Stadt brennen. Es dämmert schon fast, aber das Tageslicht hält sich noch für eine Weile zurück. Ich trete an die Brüstung, betrachte die Lichter und stelle mir die Me n schen in diesen Häusern vor – all die Tausende von Me n schen, die jetzt schlafen oder ihren Familien eine gute Nacht wünschen oder sich einen letzten Drink einsche n ken und sich hinsetzen, um sich zu unterhalten. Ist i r gendeiner von ihnen jetzt noch wach, weil sein Herz voll Kummer ist? Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich blättere die letzten Seiten des B u ches um, aber für einen Moment kann ich nicht we i terlesen.
    Nachdem ich so weit gekommen war, habe ich b e schlossen, dir nicht viel mehr zu erzählen. Ich war e r schöpft von der Aufgabe, diese Geschichte für dich au f zuschreiben und mich an all diese Dinge zu erinnern. Was geschah in den Tagen, nachdem ich zurückgekehrt war? Ich kann mich nicht genau entsinnen. Ein Teil d a von ist noch immer klar; andere Teile habe ich vollstä n dig vergessen. Ich weiß jedoch, dass ich ve r sucht habe, mich so zu verhalten, als wären die Dinge normal. Das wirkliche Leben holte mich wieder ein, und ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich erzählte es niemandem und kehrte zu Großmutter und Maria zurück.
    Wenn ich weiterhin jede Minute jeden Tages in meiner Verzweiflung verharrt wäre, wäre das leichter zu ertr a gen gewesen als diese scheinbare Normalität. Ich schä m te mich zu leben, und zwar auf dieselbe Weise, wie ich mich geschämt hätte, wenn ich einer dieser Menschen gewesen wäre, die unschuldig in ihren Häusern schli e fen; oder wenn ich nach unten gegangen und in den hell erleucht e ten Räumen unter mir getanzt hätte. Ich habe nicht das Recht dazu. Es ist schwer, dir mein Verbrechen zu b e gründen. Alles, was ich sagen kann, ist, dass ich dafür bezahle.
    Meine Geschichte geht weiter – aber jetzt noch nicht. Ich werde erst die der anderen lesen.

 
    A nna wachte plötzlich auf. Sie zitterte wieder genauso stark wie auf diesem düsteren Balkon über der Stadt. Die Uhr auf der anderen Seeseite schlug zwei. Ein Brise strich durch die Vorhänge, und sie hoben und senkten sich. Anna nahm ihre Halskette vom Nach t tisch. Sie hatte den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht geschl a fen, aber jetzt war sie hellwach, und ihr Atem ging schnell.
    »Anna?«, fragte eine Stimme vor ihrer Tür. Es war Ryan. »Ich habe dich rufen hören. Geht es dir gut?«
    Sie knipste die Lampe an und stand auf, um die Tür zu öffnen.
    Ryan wartete angezogen und mit einem Buch in der Hand im Flur. »Mein Zimmer ist gegenüber von deinem. Hör zu, Monica wird sauer sein, wenn sie uns mitten in der Nacht sprechen hört. Ich wollte nur nachsehen, ob alles in Ordnung ist.«
    »Komm doch kurz rein.«
    Sie schloss die Tür hinter ihnen.
    »Danke«, sagte er. »Es gefällt ihr sowieso nicht, dass ich hier wohne – ich weiß nicht, was sie sagen würde, wenn sie den Verdacht hätte, dass ich die zahlenden Gä s te störe.«
    »Du bist selbst ein zahlender Gast«, sagte Anna. A l debara n h atte darauf bestanden, dass Ryan das Herre n haus verließ, während er weg war, deshalb war er nach Hillview gekommen.
    Er setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie w i ckelte sich – noch immer gegen das Licht der Lampe blinzelnd – die Decke um die Schultern und ging zum Fenster, um es zu

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