Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
eingedrungen, Anna. Sie haben nur deine Haut gestreift. Wie ist das möglich?«
»Ich weiß es nicht. Bin ich wirklich wieder hier? Ich dachte, ich wäre gestorben, Ryan.« Sie griff nach seiner Hand.
An ihrer eigenen war ein Tropf angeschlossen, deshalb nahm er sie sehr behutsam. »Du warst bewusstlos. Ald e baran hielt es für einen Schock; du bist nach Malonia gegangen und dann zurückgekommen, und es könnte sein, dass das zu viel war. Und dann noch, was drüben passiert ist – es tut mir so leid, Anna. Ich hätte etwas tun müssen, aber ich dachte nicht, dass sie dich mitnehmen würden.«
»Es war nicht deine Schuld. Du hättest es nicht ve r hindern können.«
Er sah aus, als wollte er etwas sagen, doch dann schü t telte er den Kopf.
Aus alter Gewohnheit legte sich Anna die Hand an den Hals – und fand dort die Halskette. Überrascht blickte sie Ryan an.
»Aldebaran hat sie dir umgelegt, bevor der Kranke n wage n e ingetroffen ist. Er dachte, du würdest sie vie l leicht brauchen.« Er wischte sich wieder die Tränen vom Gesicht, aber es kamen weitere.
»Wein doch nicht, mir geht es gut, Ryan.« Sie ve r suchte wieder, sich aufzusetzen. Er stützte ihren Rücken mit den Kissen ab. »Was hast du Monica gesagt? Wie hast du ihr die hier erklärt?« Sie berührte die Stiche an ihrer Wange.
»Ich habe behauptet, dass wir uns in den Hügeln ve r laufen haben und in der Dunkelheit gestürzt sind. Das hat auch gleich diese Beule an meinem Kopf erklärt. Ich gla u be nicht, dass der Arzt es mir abgenommen hat, aber …« Er blinzelte sich die Tränen aus den Augen. »Was hätte ich denn sagen sollen? Wie kann man die Wahrheit s a gen, wenn niemand sie glauben würde?«
»Ich wusste nicht, ob ich dich wiedersehen würde. Ich habe nicht erwartet, dass ich aufwachen würde. Das Let z te, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in der Kirche war und dachte, ich wäre angeschossen worden. Aber ich hatte einen wirklich seltsamen Traum …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nicht mehr.« Da fiel ihr etwas ein. »Aber Aldebaran war hier – ich weiß, dass er hier war.«
»Ja, bis vor ein paar Minuten. Sobald er sich sicher war, dass du wieder in Ordnung kommen würdest, mus s te er nach Hause zurück.« Ryan sah zum Fenster hinaus, aber Aldebaran war bereits außer Sichtweite. »Er kehrt nach Malonia zurück. Die Dinge haben sich letzte Nacht verändert, Anna. Man spricht von einer Revolution. L u cien ist tot, genau wie die anderen – Ahira und Darius Southey und die Hälfte der militärischen Anführer. T a litha nicht. Niemand wagt es, eine Erleuchtete zu töten. Aber sie wurde gefangen genommen, und Aldebaran ist nicht länger ein Verbannter.«
Eine Ärztin tauchte plötzlich in der Tür auf, gefolgt von Monica. Monica blieb für einen Moment stehen und starrte Anna an. Dann lief sie mit klappernden Absätzen durch das Zimmer.
»Danke, lieber Gott«, stieß sie hervor, während ihre Tränen auf Annas Gesicht fielen. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? Du bist einfach in die Hügel sp a ziert, ohne mir auch nur Bescheid zu sagen! Anna, ich habe mich nicht getraut, deine Mutter anzurufen. Du bist alles, was sie noch hat – was hätte ich ihr sagen sollen? Und …«
Die Ärztin legte Monica eine Hand auf die Schulter, um sie zu beruhigen, dann beugte sie sich zu Anna vor. »Erinnerst du dich, was passiert ist?«
Anna sah zu Ryan, und er wiederholte seine Geschic h te.
»Stimmt das?«, fragte die Ärztin. Anna nickte. Die Frau runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Wortlos u n tersuchte sie Annas Wange. Ryan fing Annas Blick auf, dann sah er weg.
»Seltsam«, sagte die Ärztin schließlich. »Diese A b schürfungen sind alle gleich. Sie sehen beinahe aus wie … Ich weiß nicht. Ich hätte auf Streifschüsse getippt.«
Aldebaran wanderte im ersten Sonnenschein über die Hügel. Für einen Moment schaute er zurück zu der Stadt, in der das Krankenhaus stand. Er wandte sich ab und ging zwischen den Bäumen hindurch in Richtung des alten Steinkreises, wo er vor vielen Jahren die Augen aufgeschlagen und sich in einem fremden Land wiede r gefunden hatte. Während er lief, hörte er auf, das Zwi t schern der Vögel und den Wind wahrzunehmen, der durch den Wald fegte. Er meinte, irgendwo vor sich ganz schwach andere Geräusche zu hören – Stimmen in der Luft, die einen Dialekt sprachen, der ihm vertraut war. Und wie ein Traum oder Albtraum begann England, um ihn herum zu
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