Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
wärst?«
»An deiner Stelle? Vermutlich …« Ich dachte nach. »Schreien und fluchen. Und mit Sachen um mich schmeißen.«
Sie zog die Brauen hoch, dann begann sie zu lächeln.
»Nicht auf Menschen«, fügte ich hastig hinzu, und wieder lachte sie laut auf. »Im Ernst«, sagte ich und ve r suchte mir auszurechnen, was sie wohl hören wollte. »Ich schätze, du könntest … hm … ihr danken, wenn sie dir einen Rat gibt und … immer wieder erwähnen, was für eine große Hilfe sie dir ist …«
»Nur damit sie sich nicht von mir bedroht fühlt? Glaubst du, das würde funktionieren?«
»Ich weiß es nicht. Um ehrlich zu sein, fragst du dafür genau den Falschen.«
»Nein«, entgegnete Maria überzeugt. »Du bist ein g u ter Zuhörer.« Ich fühlte mich plötzlich schuldig, weil ich sie zwar angesehen, dabei aber nur mit halbem Ohr z u gehört hatte. »Es könnte klappen.« Sie lächelte mich an. »Da n ke, Leo.« Aber ihr Lächeln verblasste, und mir fiel auf, wie erschöpft sie aussah. »Ich wünschte, ich könnte ei n fach von zu Hause weggehen.«
»Vielleicht kannst du das eines Tages.«
»Woher soll ich das Geld nehmen?« Sie wirkte und sprach, als müsste sie es einfach nur aus ihrer Tasche kramen. Aber trotzdem lebte sie in der Zitadellstraße.
Ich sah sie an und wünschte mir, sie würde wieder l ä cheln. Ohne nachzudenken sagte ich: »Wenn es dir auf die Nerven geht, mit deiner Mutter zusammen zu sein, kannst du jederzeit runter in unsere Wohnung kommen. Ich bin im Moment den ganzen Tag zu Hause, und ich wäre froh, wenn ich jemanden zum Reden hätte. Ich bin es nicht gewöhnt, ständig daheim zu sein.«
»Danke«, sagte sie. »Vielleicht nehme ich dich beim Wort. Ich fühle mich oft so allein, und keine meiner Freundinnen lebt auch nur in der Nähe dieses Stad t teils.«
»Ich würde mich freuen, wenn du vorbeikämst. Du bist jederzeit willkommen. Zusammen mit Anselm, n a türlich.«
»Danke«, sagte sie erneut. »Obwohl ich ihn lieber d a heim lassen würde.« Sie lachte. Maria stieß sich vom Tor ab, gegen das sie sich gelehnt hatte. »Ich schätze, ich sollte besser wieder reingehen.«
Ich nickte.
Als sie die Haustür erreichte, drehte sie sich um. »Danke, Leo. Ich brauche wirklich einen Freund.«
Das Einzige, was ich zustande brachte, war ein weit e res Nicken. Sie glitt um die Tür herum. Für einen absu r den Moment glaubte ich wegen der Art und Weise, wie sie es tat, dass sie mir eine Kusshand zuwerfen würde. Vielleicht war es das, was an ihrem Mund so faszinierend war – er sah ständig so aus, als würde sie einem gleich einen Luftkuss geben. Jedenfalls tat sie es nicht, was wirklich ein Glück war. Ich hätte es nicht verkraftet.
Am nächsten Morgen klopfte es gegen elf an die Tür. Ich warf einen Blick in den Spiegel, fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, zupfte meinen Hemdkragen zurecht und machte dann auf. Natürlich war es Maria, mit ihrem B a by auf dem Arm.
»Hallo«, begrüßte ich sie. »Komm rein – meine Großmutter ist weggegangen.« Sie trug einen Morge n mantel.
»Hallo, Leo. Du siehst heute Morgen umwerfend aus.«
Umwerfend? Ganz bestimmt machte sie das mit A b sicht.
»Bitte entschuldige meine Kleidung.« Sie sagte das, als würde sie ein Kleid tragen, das zu alt oder zu unfes t lich für eine Party war. Nicht um einen Morgenmantel. »Anselm hat sich auf meine Sachen erbrochen, und der Rest hängt beim Trocknen.«
»Mach dir keine Gedanken«, sagte ich. »Äh … setz dich doch.« Das tat sie.
»Das ist mal was anderes, als immer allein rumzusi t zen«, meinte sie.
»Was? Mit mir rumzusitzen?«
Sie lachte.
»Ist deine Mutter den ganzen Tag weg?«
»Ja, sie arbeitet jetzt Vollzeit auf dem Markt. Am Obst- und Gemüsestand.«
»Bei Mr. Pearson?«
»Woher weißt du das?«
»Meine Großmutter unterhält sich manchmal mit ihm. Ich kenne ihn aber nicht gut.«
Ich überlegte fieberhaft, was ich als Nächstes sagen konnte, bevor sich das Schweigen noch länger ausdehnte, als es unten an der Tür klingelte. »Wahrscheinlich meine Großmutter«, sagte ich.
»Sollen wir aufmachen?«
»Mrs. Blake wird öffnen. Sie macht das immer.«
Ich stand auf, um an die Wohnungstür zu gehen. Aber die Stimme, die von unten heraufdrang, war nicht die meiner Großmutter – es war der tiefe Bariton eines Ma n nes, der eine Frage stellte, die ich nicht verstehen konnte. Mrs. Blake gab ihm eine leise Antwort. Wieder sprach der Mann, lauter diesmal, und ich hätte
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