Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Stirlings Zustand verschlechtert, während ich weg bin?«
»Dann schicke ich Maria los, um dich zu holen. Sie wird das machen – sie hat es selbst angeboten. Warum machst du dich nicht schon mal fertig, dann kannst du dich immer noch entscheiden.«
Ich hatte meine Uniform bereits an; ich war letzte Nacht in ihr eingeschlafen. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, dann lief ich schnell zurück ins Schlafzimmer. »Vielleicht hat sich sein Zustand schon verschlechtert.« Ich betrachtete Stirling. Sein Gesicht war vom Fieber gerötet, aber das war es vorher auch schon gewesen.
»Pater Dunstan kommt nach der Messe vorbei. Er wird beurteilen können, ob es Stirling schlechter geht oder nicht.«
»Großmutter – ich weiß nicht, warum, aber ich bin furchtbar beunruhigt. Du weißt, dass ich diese Gabe h a be. Deshalb gibt es vielleicht einen Grund, warum ich so beunruhigt bin.«
»Aber Pater Dunstan sagte …«
»Hat Pater Dunstan auch die Gabe?«
»Leo, was sollen deine magischen Fähigkeiten Stirling nützen? Welchen Nutzen hat irgendwas, das du tun kannst? Was kannst du wirklich tun, um Stirling gesund zu machen? Vielleicht liegt er hier tagelang ohne B e wusstsein, bevor er aufwacht, und das Einzige, was wir tun können, ist warten. Setz dich hin oder geh für eine Weile raus, aber bitte bemüh dich, wieder ruhig und ve r nünftig zu werden.«
Plötzlich weinte ich fast vor Wut, weil sie so unei n sichtig war. »Warum versuchst du vorzugeben, dass alles normal ist, Großmutter? Glaubst du im Ernst …«
»Es gibt nichts, das du tun könntest, Leo!«
Doch sie irrte sich. Es gab etwas, das ich tun konnte. Ich konnte nicht hier sitzen und warten, aber ich konnte etwas anderes tun. Also machte ich mich auf den Weg.
Ich rannte. An etwas anderes konnte ich nicht mehr denken – ich rannte aus der Stadt hinaus und über den Friedhof. Am Tor waren keine Wachen, die mich aufhie l ten. Ich hastete weiter. Irgendetwas trieb mich hinaus in die Berge, um noch einmal nach der Blutblume zu s u chen. Wenn man die Gabe besitzt, kann man sie nicht ignorieren.
Ich rannte immer weiter. Sogar als die Hänge steiler wurden, behielt ich mein Tempo bei und jagte bergauf und bergab in Richtung Horizont. Ich lief durch einen Fluss, und meine Stiefel saugten sich voll Wasser. Ich hetzte von Schlucht zu Schlucht auf der Suche nach e i nem Hinweis, der mir verraten würde, wo ich suchen musste. Aber ich fand keinen, und deshalb suchte ich in meiner Verzweiflung überall.
Meine Augen begannen, von der Jagd auf das Aufbli t zen roter Blütenblätter, die nicht da waren, zu schmerzen. Ich suchte immer verzweifelter. Am Ende umkreiste ich dieselben Stellen wieder und wieder und zerteilte dabei ungeduldig die Grashalme. Plötzlich verharrte ich, denn mir wurde klar, dass es hier nichts zu finden gab. Und plötzlich ertrug ich diesen Ort nicht länger; ich wollte nur noch weg. Ich rannte den nächsten Abhang hinauf.
Von hier oben hatte ich eine weite Sicht. Ich wandte den Kopf und sah zurück – ich hatte mehrere Kilometer zurückgelegt. Die Knochen taten mir weh, und mein Kopf pochte vor Müdigkeit. Ich brach zusammen und starrte einfach in die Höhe.
Über mir schien die Sonne, und der Himmel war von einem unnatürlichen Blau, das so deckend und blendend war, als wäre er künstlich eingefärbt worden. Mir tat der Kopf vom Hinsehen weh, deshalb schloss ich die Augen und legte die Hand über mein Gesicht, um es vor der Helligkeit abzuschirmen. Erst jetzt bemerkte ich, dass mir der Schweiß auf der Stirn stand.
Ich hatte nicht die Kraft, wieder aufzustehen. Und plötzlich wollte ich es auch gar nicht. Solange ich ganz still lag, war alle s u nter Kontrolle. Wenn ich mich nicht bewegte, würde auch alles andere still bleiben. Irritiert von der Hitze und den Grashalmen, die sich in die Rüc k seiten meiner Arme drückten, lag ich einfach nur da …
Ich öffnete die Augen und wusste nicht, ob ich geschl a fen hatte oder nicht. Ein Vogel zwitscherte ganz in der Nähe. Als ich nach oben sah, entdeckte ich ihn – ein dunkler Schemen am Himmel. Er stieg auf, flog immer höher, bis er nicht mehr größer als ein Staubkorn war, dann war er verschwunden. War er geradewegs aus der Atmosphäre geflogen? Oder waren meine Augen einfach zu schwach, um ihn zu sehen? Es schien, als wäre er auf direktem Weg in den Himmel geflogen.
Das ließ mich an eine alte Geschichte denken, die Großmutter uns früher manchmal erzählt hatte. Über die kleinen
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