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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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Kinder, die starben. Ihre Seelen wurden zu V ö geln, damit sie zum Himmel hinauffliegen konnten. Ich erinnerte mich, wie sie zu uns gesagt hatte: »Sie stiegen höher und höher, und die Welt wurde immer kleiner, bis sie sie nicht mehr sehen konnten. Sie flogen durch die Wolken, und sie waren frei. Sie vergaßen die Erde und all ihren Kummer dort, denn nun gingen sie nach Ha u se.« Das war Stirlings Lieblingsteil. »Stell dir mal vor, die Erde nicht mehr sehen zu können«, hatte er dann i m mer gesagt. »Stell dir das mal vor, Leo.« Er hatte sich nie vor dem Tod gefürchtet. Nie. Ich war derjenige, der sich fürchtete.
    Meine Augen brannten von dem grellen Licht. Ich stand auf, aber die Tränen liefen weiter. Sie rollten über meine Wangen und durchtränkten meinen Hemdkragen. Ich versuchte, sie wegzuwischen, aber es kamen immer neue, und ich sank zitternd auf die Knie, schlug die Hä n de vors Gesicht und schluchzte wie ein kleines Kind. Ich würde die Blutblume nicht finden – es war dumm von mir gewesen zu glauben, dass es mir gelingen würde. Stirling würde bewusstlos daliegen, bevor sich sein Z u s tand weiter verschlechterte und er schließlich starb – und ich würde zurückbleiben, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Ich holte schaudernd Luft. Was zur Hölle war bloß los mit mir? Aber ich weinte weiter. Ich konnte einfach nicht aufhören.
     
    Erst als ich keine Tränen mehr hatte, beruhigte ich mich. Ich öffnete die Augen und hustete jämmerlich. Das Gras vor mir schimmerte feucht. Durch mein langes Weinen war mein Magen wässrig und schwer geworden. E r schöpft kämpfte ich mich auf die Füße. Es hatte keinen Sinn, noch länger hier draußen zu bleiben.
    Da erstarrte ich. Ich sah etwas. So als wäre sie meinen Tränen entsprungen, stand dort im feuchten Gras eine Blume.
    Ich hörte auf zu atmen und starrte sie an. Sie hatte blutrote, sternförmige Blüten mit einer gelben Mitte; die Blätter waren dunkelgrün und von roten Adern durchz o gen. Es war dieselbe wie auf den Bildern, die ich gesehen hatte. Es war dieselbe wie in den Beschreibungen, die ich gehört hatte. Es war, soweit ich das erkennen konnte, die Blutblume.
    Ich setzte mich und starrte sie weiter an. Dann streckte ich die Hand aus und berührte sie. Sie stand wirklich hier vor mir – sie war die ganze Zeit hier gewesen.
     
    Mein Herz schlug so schnell, dass ich es im Kopf hören konnte. Ich begann, die Erde um die Pflanze herum we g zuscharren, panisch vor Angst, sie zu verletzen. Dabei sah ich mich ständig nach allen Seiten um, für den Fall, dass sie sonst noch jemand entdeckt hatte, aber die Berge waren menschenleer. Ich grub schneller. Der Boden war so trocken, dass ich die Pflanze schon kurze Zeit später mitsamt den Wurzeln befreit hatte.
    Meine Hände zitterten. Ich zog meine Jacke aus, legte die Pflanze hinein und deckte sie ganz vorsichtig zu, d a mit sie ke in es ihrer Blütenblätter verlor. Die Blütenblä t ter waren nämlich der Teil, der das Stille Fieber kurierte. Mit diesem Gedanken stand ich auf und rannte los.
     
    Unser Wohnhaus sah irgendwie verändert aus, als ich darauf zustolperte. Das lag daran, dass ich verändert war. So müde und schmutzig ich auch war, fühlte ich mich trotzdem plötzlich wie ein unsterblicher Held – größer noch als der Lord Aldebaran . Ich hatte die Blume gefu n den, die Stirling das Leben retten würde. Ich wickelte meine Jacke auseinander und überprüfte, dass sie nicht verschwunden war; dass es noch immer dieselbe Blume war wie da draußen in den Bergen. Die Blätter waren schon dünn und welk, der Stängel war schlaff, aber die Blütenblätter waren unversehrt. Ich blieb für einen M o ment still an der Haustür stehen, weil anschließend nichts mehr so sein würde wie zuvor, und dieser Gedanke machte mich benommen. Ich drückte die Pflanze an me i ne Brust und ging hinein.
    Ich rannte wieder. Ich hatte geglaubt, müde zu sein, aber das stimmte nicht. Zwei Stufen auf einmal nehmend, jagte ich die Treppe hinauf. »Ich bin zu Hause«, rief ich. »Großmutter! Stirling! Ich bin wieder da!« Ich stürmte durch die Schlafzimmertür und rief dabei wie ein aufg e regtes Kind: »Seht mal! Seht, was ich gefunden habe!«
    Dies war das ENDE
     
    I ch schließe das Buch und merke, dass ich für einen Moment lächle, als ich mich an diesen Tag erinnere. Auf dem Balkon wird es allmählich stiller. Die Lic h ter der Stadt verlöschen eins nach dem anderen. Die Musik ist

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