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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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Uhr ticken und mein eigenes Herz schlagen hören, aber sonst nichts. Meine Gedanken schweiften zu anderen Dingen. Ich fing an, mir zu wünschen, dass Maria hier wäre. Aber sie ha t te zuvor schon ein paar Einkäufe für uns erledigt und würde nicht noch mal vorbeikommen. Sie würde mich sowieso nicht sehen wollen. Warum hatte ich das zu ihr gesagt? Warum nur? Wie hatte ich das zu ihr sagen kö n nen? Ich kniff die Augen zusammen und presste die Fä u ste dagegen, als ich daran dachte. Wie hatte ich das nur sagen können?
    Als ich sie wieder öffnete, sah ich, dass Pater Dunstan mich beobachtete, und ich hörte auf, Grimassen zu schneiden. Er lächelte freundlich. »Mach dir keine So r gen, Leonard. Es wird nicht für immer andauern.«
    Ich fühlte mich in diesem Moment so schuldig, dass ich mir absichtlich vorstellte, Stirling wäre tot. Für i m mer gegangen. Ich würde allein zur Schule laufen. Großmutter und ich würden allein den Gottesdienst bes u chen. Falls jemand mich fragte, ob ich einen Bruder hä t te, würde ich nein sagen müssen. Sein Bet t w ürde leer sein, genau wie sein Platz am Esstisch, und in der Schule wü r de jemand anderer an seinem Pult sitzen.
    Ich stellte mir vor, wie ich eines Tages aus dem Fen s ter meines Klassenraums sah und den Zug A der zwe i ten Klassenstufe beim Training im Hof beobachtete. Ich würde den Jungen sehen, dem schon seit einem Jahr die Schneidezähne fehlten, und den Neffen des Colonels mit den orange-braunen Sommersprossen und den, der stä n dig Streit suchte, obwohl er kleiner war als die anderen – wie immer würde ich sie alle sehen. Der Einzige, den ich – egal, wie sehr ich mich anstrengte – nicht sehen würde, wäre Stirling, denn Stirling würde nicht da sein. Stirling würde nie wieder da sein; er würde nur noch als Erinn e rung existieren.
    Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Mit einem hastigen Blick auf ihn stellte ich fest, dass er immer noch atmete. Langsam, aber gleichmäßig. Ich presste mir die Hand aufs Herz und ließ ihn von da an nicht mehr aus den Augen.
    Um Mitternacht stand Pater Dunstan auf, um Stirlings Puls zu messen. Wir saßen schon seit zwei Stunden im Dunkeln, aber das fiel mir erst jetzt auf. Niemand machte Anstalten, eine Lampe anzuzünden.
    »Wie geht es ihm?«, fragte Großmutter.
    »Schwer zu sagen«, meinte Pater Dunstan. »Das ist wirklich schwer zu sagen.« Dann setzte er sich wieder hin, und wir starrten Stirling weiter schweigend an.
    Nach etwa einer halben Stunde wurden meine Lider allmählich schwer. Es tat weh, sie offen zu halten. Ich kämpfte erbittert dagegen an, dass sie mir zufielen. Konnte ich meinem eigenen Bruder zuliebe nicht einmal eine einzige Nacht wach bleiben? Was, wenn er starb, während ich schlief?
    Aber es half nichts. Ich dämmerte langsam ein, und niemand gab einen Laut von sich, um mich daran zu hi n dern; die Stille des Raums lullte mich zusammen mit Stirlings gleichmäßigen Atemzügen und der Dunkelheit in den Schlaf, und ich konnte die Augen einfach nicht länger offen halten.
     
    Ich wachte auf, sah Stirling dort liegen und sprang auf die Füße. »Großmutter, warum hast du mich nicht g e weckt? Wie geht es ihm? Schlechter?«
    »Unverändert«, sagte sie. Er lag noch immer so reglos da wie zuvor. Großmutter hatte ihren Stuhl so nah wie möglich ans Bett gezogen und drückte ihm gerade einen kalten Wickel an die Stirn.
    Im Schlaf hatte ich vergessen, dass Stirling krank war, und jetzt schlug mein Herz wieder rasend schnell. »Wo ist Pater Dunstan?«
    »Er ist gegangen, um die Acht-Uhr-Messe zu halten. Er denkt, dass Stirling noch ein paar Tage in diesem Z u stand sein wird.«
    »Und was dann?«
    »Ich weiß es nicht. Wir müssen einfach Geduld haben. Sitz still, Leo.«
    Aber ich konnte nicht still sitzen. Resigniert vom Wa r ten und stillen Beobachten war ich eingeschlafen. Ich war aufgewacht und konnte nun nicht einfach weiter wa r ten. Ich hatte in dieser Nacht den letzten Rest meiner G e duld verloren. Ich fing an, im Zimmer auf und ab zu la u fen. Dabei stolperte ich über einen meiner Stiefel, und Stirling runzelte kurz die Stirn.
    »Leo, warum gehst du nicht zur Schule?«, fragte Großmutter.
    »Zur Schule? Wie könnte ich zur Schule gehen?«
    »Ich glaube, dass es gut für dich wäre. Aber sonst kannst du auch die Straße runterlaufen und Brot holen – unsere Vorräte sind aufgebraucht, und wir haben beide seit gestern Mittag nichts mehr gegessen.«
    »Was ist, wenn sich

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