Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
seinem Drehbuch, weil ich nicht wusste, wie ich sonst reagieren sollte. Ich schlug die Hände vors Gesicht und drehte mich einmal um die eigene Achse. Anschließend fing ich an, gegen die Wand zu treten und zu schlagen, während mein Herz kalt und fassungslos war.
»Leo, hör auf!« Ich hörte Großmutter schluchzend nach Luft ringen. »Oh, Leo, Leo, tu das nicht.« Sie ve r suchte, mich umzudrehen, damit ich sie ansah. Ich schrie irgendetwas zurück, aber ich weiß nicht, was.
»Beruhig dich, Leo«, hörte ich Pater Dunstans Sti m me. »Jetzt beruhig dich erst mal.«
Großmutter fiel neben der zertretenen Blume auf die Knie. »Leo … ist das …? Leo …? «
Aber ich konnte nicht antworten.
»War das die Blutblume?«, fragte Großmutter. »Es wa r d ie Blutblume.« Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Leo!«, schluchzte sie. »Oh, Leo! Leo! Warum bist du nicht schneller gelaufen? Ach, wärst du doch nur schne l ler gelaufen.«
»Mrs. North«, sagte Pater Dunstan bestimmt. »Marg a ret. Niemand hat Schuld.« Großmutter klammerte sich mit gebeugtem Rücken weinend an ihn. »Niemand ist verantwortlich, weil niemand Gottes Willen ändern kann.« Und dann sprach er über die Anwendung der Blume, darüber, wie man sie erst hätte präparieren mü s sen; dass es sich vielleicht gar nicht um die Blutblume handelte und sie seiner Meinung nach die falsche Farbe hätte; dass es unter solch schwierigen Umständen leicht war, sich zu irren, bei dem was man sah.
Ich wollte ihn anschreien, so laut ich konnte, aber das würde noch immer nicht laut genug sein. Und ich hatte das Gefühl, dass es zu wenige Worte gab. Deshalb hörte ich einfach auf zu sprechen.
Ich sah Stirling an und wünschte mir, dass nur er und ich hier wären, ohne Großmutters hysterisches Weinen und Pater Dunstans fehlgeleitete Weisheiten. Es waren zu viele Menschen hier. Ich konnte nicht denken. Ich brauchte Ruhe. Ich wollte sie auffordern, uns allein zu lassen. Aber ich sagte nichts. Endlich half Pater Dunstan Großmutter auf, sie gingen hinaus und schlossen hinter sich die Tür.
Ich sank neben Stirling aufs Bett und berührte sein Gesicht. Seine Haut wurde allmählich kühl. »Oh … nein … nein …« , wisperte ich. »Stirling, warte.« Verzweifelt zog ich die Decke um sein Gesicht, um ihn warm zu ha l ten; um zu verhindern, dass seine Seele davondriftete. Aber sie war schon fort. Ich schlang ihm die Arme um den Hals und schluchzte. »Bitte, Stirling. Du kannst mich nicht verlassen. Ich werde sterben, Stirling, ich werde sterben.«
Ich umarmte ihn so fest, dass mein Herz gegen seine stille Brust schlug. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie mein Herzschlag ihn zurückbrachte. Ich ko n zentrierte mich so sehr, dass alles andere davonglitt, und das Einzige auf Erden, was blieb, war mein Herzschlag. Ich atmete nicht, aber ich hielt auch nicht die Luft an. Das Einzige, was in dieser Welt noch existierte, war di e ser eine Herzschlag. Dann sah ich mich selbst auf dem Bett mit Stirling in den Armen, und ich trieb davon. Ich starb – und er kehrte zurück!
Ich glaubte, mein Kopf wäre explodiert. Mein ganzer Körper zitterte, meine Zähne schlugen wie wild aufei n ander. Ich stürzte zu Boden. Mein Gehirn hämmerte g e gen die Schädeldecke, und ich streckte den Arm nach Stirling aus, aber er war zu weit weg.
Und es gab nichts, das ich tun konnte. Meine Gabe war nicht groß genug, um ihn zu retten.
Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Gehirn konnte meinem Körper keine Befehle mehr geben. Ich schleppte mich ein kurzes Stück über den Boden, erreichte Stirlings Hand, umklammerte sie und blieb einfach dort liegen, während sie so hart und kalt wie Marmor wurde. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Ich träumte, dass alles, was zuvor existiert hatte, sich im Nichts auflöste. Das Nichts ist allumfassender als die Dunkelheit. Es gab keine Erde mehr; nicht die Sonne, den Mond oder die Sterne; keinen Himmel, keine Hölle; keine Engel, keine Dämonen; es gab keinen Gott – nur das Nichts.
Dann kam ich durch Großmutters Weinen wieder zu mir, und es war schlimmer als der Traum, denn es war die Wirklichkeit. Ich war wieder wach und spürte die Dielenbretter unter mir. Ich war noch immer hier, kauerte im kalten Tageslicht neben seinem Bett, und die Blume war zertreten, Stirling tot.
»Was ist passiert?«, fragte Großmutter und rüttelte mich an den Schultern. »Wir haben dich nur ein paar M i nuten allein gelassen. Leo, was ist passiert?«
Weitere Kostenlose Bücher