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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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nach und nach alle anderen gingen.
    »Ah, Leonard«, sagte Pater Dunstan, als er aus der S a kristei trat. »Ich wollte gerade bei euch vorbeikommen und nachsehen, wie es Stirling geht. Sollen wir uns bei dir zu Hause treffen?«
    Ich nickte, ohne ihn wirklich wahrzunehmen, und erst fünf Minuten, nachdem er gegangen war, begriff ich, was er gesagt hatte.
    Ich schlenderte langsam zum rückwärtigen Teil der Kirche und blieb vor dem Ständer mit den Opferkerzen stehen. Vor meinen müden, tränenden Augen bildeten die Flammen diagonale Kreuze, die sich im Luftzug von der offenen Tür in die Länge zur Seite neigten. Draußen bra u te sich ein Sturm zusammen. In den engen Gassen fauchte der Wind und klatschte weggeworfene Zeitungen gegen den leeren Brunnen auf dem Platz. Die Tür knallte auf, dann wieder zu und krachte dabei gegen den Ra h men.
    Dann herrschte für einen Moment Windstille. Ich nahm eine Kerze, zündete sie an und stellte sie für Sti r ling auf den Ständer – getrennt von den anderen, damit ich wusste, welche es war. Ich wollte mich neben die Kerzen knien, schätzte die Entfernung falsch ein, prallte mit dem Knie auf den Boden und musste einen Fluch unterdrücken. Schuldbewusst senkte ich den Kopf.
    »Bitte, Gott, lass Stirling am Leben«, flüsterte ich so leise, dass ich nicht wusste, ob ich die Worte wirklich flüsterte oder nur dachte. »Bitte. Ich weiß, dass ich schlecht bin, aber soll er dafür bestraft werden? Ich schwöre, dass ich nie wieder fluchen werde, wenn du ihn weiterleben lässt. Ich werde jeden Tag zur Kirche ko m men. Ich werde morgens und abends in der Bibel lesen. Ich werde alles geben. Ich würde mir die Arme und Be i ne abhacken lassen, wenn das der einzige Weg wäre, damit Stirlin g l eben kann.« Einen Moment lang fühlte ich mich beklommen, so als wäre dieser Handel endgü l tig und es könnte wirklich passieren. Im nächsten M o ment war ich vor Schuld wie gelähmt, dass ich den Wert meiner Arme und Beine höher schätzte als das Leben meines Bruders.
    »Bitte … ich werde alles tun«, flüsterte ich weiter. »Lass mich das Stille Fieber bekommen und sterben, wenn es sein muss, aber verschone ihn. Er ist der Gute von uns beiden. Er ist zu gut, um zu sterben. Erkennst du das denn nicht?« Ich wiederholte die Frage nun laut: »Erkennst du das nicht?« Aber da war nur Schweigen. Gott war zu weit weg, um mich zu hören. »Bitte lass ihn nicht sterben, um mich zu bestrafen.«
    Ein plötzlicher Windstoß riss die Tür auf und schlug sie gegen die Wand. Die Kerzenflammen verbeugten sich tief und flackerten in perfekter Synchronie wieder hoch. Alle, bis auf eine. Stirlings Kerze, die neueste und höch s te, die getrennt von den anderen und der Tür am näc h sten stand, ging aus. Ein dünner Rauchfaden kräuselte sich nach oben, dann zerrte der Wind ihn mit sich fort. Ich starrte zu der leeren Stelle, wo die Flamme hätte sein müssen, dann stand ich auf und rannte zur Tür hinaus. Ich glaubte an böse Vorzeichen. Das tat ich wirklich, und es hatte keinen Sinn, mir vorzumachen, es wäre nicht so.
     
    Nachdem ich mir vor lauter Hast den Ellbogen am Ra h men unserer Wohnungstür angeschlagen hatte, knallte ich sie hinter mir zu und rannte ins Schlafzimmer. Gro ß mutter und Pater Dunstan drehten sich um und sahen mich an. Stirling lag reglos da.
    »Er ist bewusstlos«, sagte Großmutter.
    Ich stand da und starrte ihn keuchend und mit einer Hand unbewusst meinen tauben Ellbogen umklammernd an. »Komm und setz dich hin, Leonard«, forderte Pater Dunstan mich auf. »Du musst nicht erschrecken. Das ist ein normales Stadium der Krankheit . «
    Für eine Sekunde hatte ich geglaubt, Stirling wäre tot. Nun kniete ich mich neben das Bett, legte ihm die Hand vor den Mund und fühlte seinen Atem. »Wie lange wird es dauern?«
    »Das wird vermutlich nicht so schnell vorübergehen«, erwiderte Pater Dunstan. »Alles, was wir tun können, ist warten.«
    Schweigend saßen wir da und beobachteten Stirling. Genauer gesagt seinen Körper, denn wo auch immer sein Geist sein mochte, hier war er jedenfalls nicht. Stirling umgab eine seltsame Ruhe, und ich dachte, dass er träumte. Wann immer er sich ein kleines bisschen b e wegte, sprang Großmutter mit einem leisen Schrei auf, nur um sich dann wieder hinzusetzen, sobald er in die Reglosigkeit zurückfiel.
    Aus irgendeinem Grund war ich nicht besorgt. Die Gleichmäßigkeit von Stirlings Atem verlangsamte auch meinen eigenen. Ich konnte Pater Dunstans

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