Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
Vom Netzwerk:
gedämpfter, seit sie die Türen wegen des stärker we r denden Windes geschlossen haben. Ich stehe auf und g e he mit dem Buch in der Hand über den mondbeschien e nen Balkon.
    Nachdem ich dies nun noch mal gelesen habe, erinn e re ich mich an den Tag, an dem ich diesen Teil der G e schichte schrieb. Ich saß am Fenster und wusste, noch bevor ich mich umdrehte, dass jemand hinter mir stand. Ich legte den Füller weg und drehte mich lächelnd um. »Erinnerst du dich daran, Stirling?«
    Aber was auch immer ich damals schrieb, es war nicht das Ende.

 
    I ch stolperte durch die Schlaf zimmertür. Großmutter und Pater Dunstan waren beide im Zimmer, aber sie sahen Stirling an, sodass ihre Rücken mir zugekehrt w a ren. »Großmutter!«, rief ich. »Stirling! Seht nur, was ich gefunden habe.«
    »Ruhig, Leo«, murmelte Großmutter, ohne sich umz u drehen. Ich stürzte in den Raum, öffnete die Hand und hielt ihnen die Blume entgegen.
    »Stirling«, sagte ich nun etwas leiser, doch er antwo r tete nicht. »Stirling?«
    Ich weiß nicht, warum ich es überhaupt versuchte. Er würde niemals antworten, egal wie laut ich sprach. Aber mein Gehirn hatte keine Kontrolle mehr über das, was ich tat. »Stirling?« Ich brüllte fast. »Stirling!«
    »Hör auf zu schreien, Leo«, bat meine Großmutter. Und als sie das sagte, fing sie an zu weinen; sie drehte sich zu mir um, und sie sah nicht mehr aus wie sie selbst. Auch Pater Dunstan sah nicht mehr aus wie er selbst. Und ich war nicht mehr ich selbst. Der Einzige von uns, der noch immer wie er selbst aussah, war Stirling. Und er war tot.
    Das ist der Grund, warum ich › DAS ENDE ‹ geschri e ben habe. Weil es das Ende von allem war.
    Ich stand auf und starrte zu Stirling rüber. Ich fiel auf die Knie und versuchte weiter, ihn zu wecken, weil mein Gehirn es noch immer nicht begriff. Aber mein Herz tat es und mein Magen und meine Lungen – sie alle hatten aufgehört zu arbeiten. Es war, als ob sie sich auflösten.
    Stirlings Hände waren immer noch warm. So als ob er gleich aufwachen und mich angrinsen würde, mit seinen unregelmäßigen Zähnen und seinen Sommersprossen und seinem Bürstenschnitt, der heller war als seine Haut.
    »Er sieht vollkommen ruhig aus«, sagte Pater Dunstan, der ebenfalls weinte. »Er hatte keine Schmerzen – er ist ganz friedlich eingeschlafen.«
    Ich vergrub den Kopf in der Steppdecke und legte meine Hände auf die meines Bruders. Schließlich sagte ich: »Warum habt ihr mich nicht …« Aber ich brachte den Satz nicht zu Ende und musste noch mal ansetzen. »Warum habt ihr mich nicht geholt?«
    »Er ist erst vor einer Minute gestorben«, erklärte P a ter Dunstan. »Er hat vor einiger Zeit mal nach dir g e fragt, als er kurz wach wurde – wir haben Maria zu de i ner Schule geschickt, aber du warst nicht da.«
    »Erst vor …« , flüsterte ich .
    »Erst vor ein paar Minuten.«
    Ich ließ das Bündel in meinem Arm los. Die Blume fiel zu Boden und blieb dort still liegen – das war es also. Ich rannte ins Wohnzimmer, packte einen Stuhl und schmiss ihn durchs Fenster. Das Glas zerbrach, und ich hörte von draußen Schreie, während er fiel.
    »Leo!«, rief Großmutter mit verängstigter Stimme. »Leo – was tust du da?«
    Pater Dunstan stand auf. Ich versuchte, den Tisch u m zukippen, aber noch bevor ich es schaffte, rannte er auf mich zu und hielt meine Handgelenke fest. Ich wollte ihn abschütteln, doc h e r ließ mich nicht los. »Beruhige dich, Leo!«, forderte er. »Es ist verständlich, dass du dich so fühlst – dass du das Bedürfnis verspürst, alles zu zerst ö ren. Das ist vollkommen normal.«
    Aber ich wollte nicht normal reagieren. Weil das hier nämlich keine normale Sache war; es passierte nicht j e dem. Und das war der Grund, warum ich Pater Dunstan einen Fausthieb versetzte.
    Ich wollte nicht so fest zuschlagen. Aber er stürzte rücklings auf den Tisch, sodass die Zeitungen wie Blätter im Wind zu Boden segelten. Eines der Tischbeine knic k te ein, und der Tisch brach unter ihm zusammen.
    »Leo!«, schrie Großmutter. »Leo!«
    Der Priester stand auf, eine Hand auf dem Gesicht. »Es ist nichts passiert«, sagte er. »Mir geht es gut.« Er hatte mich losgelassen, und dann war ich auf einmal wi e der im Schlafzimmer, und Stirling lag da so still, als würde er schlafen. Die Blume lag auf dem Boden; ich zertrat sie mit dem Fuß.
    Und plötzlich wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich war meinem Zorn gefolgt wie ein Schauspieler

Weitere Kostenlose Bücher